von Reinhard Loske
leicht gekürzt erschienen in der FAZ am 30. Dezember 2002
Neulich hat Frank Schirrmacher im Feuilleton der FAZ den Grünen so richtig die Leviten gelesen: Während erstmals Lebewesen geklont und Gene patentiert würden, so seine Schelte, habe der grüne Umweltminister nichts besseres zu tun als jahrelang nur über das Dosenpfand zu reden. Mit anderen Worten: Die Grünen von heute stießen zu den wirklich weltbewegenden Fragen gar nicht mehr vor, sondern beschäftigten sich mit belanglosen Kinkerlitzchen und symbolischer Politik. Letzten Endes bedeute das Hinabzerren der elementaren Fragen von Ökologie, Energie und Ressourcen auf das Niveau von Bierdosen und Castorbehältern nichts geringeres als Verrat am Ideal der Nachhaltigkeit und am Wählerauftrag.
Auf diese heftige Polemik liegt nun eine nicht minder zugespitzte Reaktion von Umweltminister Trittin vor, die sich etwa so zusammenfassen läßt: Das FAZ-Feuilleton sei nicht mehr wie ehedem progressiv, sondern habe sich im Angesicht der Wirtschaftskrise angstvoll auf die Rechte geschlagen und greife von dort aus nun mit ätzender Kritik die legitim gewählte Linke und ihre Politik an.
Wer mag, kann die Sache so sehen. Manch alterndem 68er wird das Wiederaufrichten der vertrauten Barrikaden vielleicht Halt geben (so wie sich die Barrikade ja auch beim Herrn Professor Baring großer Beliebtheit zu erfreuen scheint). Was am Beschwören der Rechts-Links-Dichotomie aber spezifisch grün sein soll, erschließt sich beim besten Willen nicht. Es entspräche jedenfalls nicht der Realität der grünen Partei, wenn Jürgen Trittins Antwort auf Schirrmacher als einzige aus ihren Reihen stehen bliebe. Hier also ein zweiter Versuch, sagen wir aus der Feder eines Ökologen mit wertkonservativen Genen und einem Hang zum Ordoliberalen.
Nähern wir uns Schirrmachers Text zunächst dadurch an, daß wir seine diversen Behauptungen auf ihren Realitätsgehalt hin überprüfen. Zwar mag die genaue Faktenlage in Sachen grüner Politik den Kritiker langweilen, schließlich zielt er aufs Ganze. Aber ein gewisses Maß an Präzision und Redlichkeit bei der Beschreibung des Ist-Zustandes sollte man verlangen dürfen – zumal dann, wenn so weitreichende politische Deutungen daraus abgeleitet werden.
Wie ist das also mit der These, die Grünen hätten zur Biopolitik nichts zu sagen? Sie ist falsch, sogar grundfalsch. In keiner anderen Partei beschäftigen sich so viele Politikerinnen und Politiker so intensiv mit Fragen der Bioethik, der Biomedizin und der grünen Gentechnik, allein in der neuen Bundestagsfraktion sind es acht Abgeordnete (von 55). Ob bei den Themen Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Biopatentierung, Ächtung des Klonens, Gentestgesetz oder Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen, in allen Diskussionen sind die Grünen hochpräsent. Dabei kommt alles zur Sprache, was zur Sprache kommen muß, auch die schmerzhaften Konflikte, etwa die Spannung zwischen dem eher links-libertären Autonomiebegriff, der die grüne Position zum § 218 prägte, und dem fundamentalen Verständnis von der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens von Anfang an, der bei der Bestimmung einer grünen Haltung zur Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen letztlich den Ausschlag gab. Sage keiner, die Grünen würden sich in dieser Sache nicht hinreichend quälen.
Bei der Biopatentierung liegt des Kritikers Vorwurf der Sprachlosigkeit vollends daneben. Er hätte nur regelmäßig die FAZ lesen müssen, um die grüne Position zum Thema zu kennen: Patentierbar sollen nur Erfindungen sein, nicht Entdeckungen, nur Verfahren, nicht Naturstoffe. Die Biopatentrichtlinie der EU in ihrer jetzigen Form wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Sie läßt faktisch Stoffpatente zu, begünstigt die großen unter den Pharmakonzernen, behindert die freie Forschung und schweigt zu der Frage, wie die Früchte aus der Nutzung der biologischen Vielfalt in der Südhemisphäre zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fair aufgeteilt werden könnten. Deshalb brauchen wir einen neuen Anlauf in der europäischen Politik der Biopatentierung.
Daß es nicht die grünen Regierungsmitglieder sind, die in der Gentechnikdebatte ganz vorne mitmischen, sondern Abgeordnete, sollte angesichts der Gewissensdimension, die all diese Fragen haben, kein Grund zum Lamentieren sein. Wird nicht ansonsten immer (zu Recht!) über die strukturelle Dominanz der Exekutive gegenüber der Legislative geklagt? Nur am Rande übrigens: Es war der von Schirrmacher ob seines biopolitischen Schweigens so gescholtene Joschka Fischer, der gemeinsam mit seinem damaligen französischen Amtskollegen Hubert Vedrine im letzten Jahr die Initiative zur internationalen Ächtung des reproduktiven Klonens ergriffen hat. Man ist in den Vereinten Nationen noch nicht am Ziel, hat auch diplomatisch bis jetzt wenig Geschick bewiesen, aber daß Fischer in dieser Sache untätig sei, ist schlicht nicht zutreffend.
Was ist dran an dem Vorwurf, der grüne Umweltminister betreibe eine Umweltpolitik, die sich vorwiegend mit Randständigem befasse, die großen Themen der Risikogesellschaft aber gar nicht ins Visier nehme? Von A wie Atomausstieg über K wie Kioto-Protokoll und N wie Naturschutzgesetz bis Z wie neues Zwischenlagerkonzept für Atomkraftwerke, Minister Trittin hat sein Pflichtenheft so ordentlich und beharrlich abgearbeitet wie kein zweites Mitglied im Kabinett von Bundeskanzler Schröder. Den Vergleich mit seinen Vorgängern Walter Wallmann, Klaus Töpfer und Angela Merkel muß er wahrlich nicht scheuen. Nicht jeder wird so weit gehen wollen wie der Präsident des Naturschutzbundes Deutschland, der Jürgen Trittin jüngst als „besten Umweltminister aller Zeiten“ bezeichnet hat. Aber ihm schmalspurige Umweltpolitik vorzuwerfen, geht ziemlich an der Realität vorbei.
Wenn ein Vorwurf gerechtfertigt wäre, dann der, daß zu vieles verordnet und zu weniges kommuniziert wurde. Man kann keine rechte Geschichte herauslesen aus all den Einzelmaßnahmen, jedenfalls keine spannende (von gelegentlichen Showdowns abgesehen!). Was oft fehlt, ist das Erklären der langen Linien, die für das Publikum nachvollziehbar wären. Daß Frank Schirrmacher aber ausgerechnet das Projekt als Gipfel der Belanglosigkeit herausgreift, hinter dem eine große Story liegt, läßt Zweifel an seinem feuilletonistischen Spürsinn aufkommen und fällt auf den Kritiker zurück. Denn die Geschichte der Dose und des Dosenpfandes ist voller Metaphorik, sie handelt von Kultur und Ästhetik, von gutem Geschmack, der Herrschaft des Rechts und vom Verdrängungskampf der großen Monopole gegen den Mittelstand. Wer das nicht sieht, muß blind sein.
Sicher, man kann das Thema als Kleinzeug abtun und sich auf den Standpunkt stellen, ein paar Millionen Dosen machten in der Herstellung und als Müll kein Umweltproblem. Das wäre zwar fragwürdig, denn Einwegverpackungen produzieren bei gleichem Volumen immerhin viermal mehr Treibhausgase als Mehrwegsysteme und verschandeln überdies die Landschaft, ließe sich aber vielleicht mit dem Hinweis rechtfertigen, wir hätten wahrlich größere Umweltprobleme als dieses zu bewältigen. Aber bei dem Streit ums Dosenpfand geht es eben nicht nur um Ökobilanzen und Müllvermeidung, sondern um Grundsätzlicheres: Wollen wir eine Wegwerfgesellschaft sein oder die Kreislaufwirtschaft kultivieren? Wollen wir eine vielfältige, dezentrale und mittelständische Struktur an Brauereien und Mineralwasserbrunnen oder eine hochkonzentrierte mit homogenen Produkten und verkehrsintensiver Distribution? Wollen wir wirklich einen Staat, der vernünftige Gesetze unter dem Druck von potenten Wirtschaftsinteressen einfach zurücknimmt? Warum haben Regierung, Umweltschützer, mittelständische Getränkewirtschaft, Fachhandel und die wahren Freunde deutscher Braukunst für das Dosenpfand wohl so energisch gestritten? Weil es sich um eine Lappalie handelt? Oder vielleicht doch, weil sie hinter dem Wegwerfen von allem und jedem eine Unkultur vermuten, die nicht zukunftsfähig ist?
Summa summarum: Frank Schirrmachers Polemik gegen die grüne Bio- und Umweltpolitik geht in mancherlei Hinsicht von falschen Annahmen aus, ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt. Der Autor trifft aber dennoch Punkte, an denen man als Grüner nicht ungestraft vorbeigehen sollte, ja deren Nichtbeachtung für die Partei sogar existenzbedrohend wäre.
Der eine ist fundamentaler ökologischer Natur und ließe sich vielleicht in folgender Frage zuspitzen: Ist das, was die Grünen in der Regierung an Nachhaltigkeit durchsetzen wollen und können (selbst wenn man anerkennt, daß es im Rahmen des Möglichen ganz ordentlich ist), angesichts der Dimension der ökologischen Krise nicht vollkommen unzulänglich und gleicht es nicht eher, wie Rudolf Bahro einst mutmaßte, „grünen Anstricharbeiten auf der Titanic“?
Die andere Frage richtet sich an das grüne Verständnis von Bürgergesellschaft: Warum tun die Grünen nicht mehr, um zur Lösung der Gegenwartsprobleme bürgerliche Tugenden wie Eigenverantwortung, Opferbereitschaft und Gemeinsinn zu (re-)aktivieren, sondern tragen - so jedenfalls Schirrmachers Wahrnehmung - aktiv zur Erosion dieser Ressourcen bei?
Tatsächlich schmerzt es einen oft, wie wenig grundsätzlich die Fragen der Ökologie in den Grünen noch diskutiert werden. Wo früher Herbert Gruhl Verzicht und Maßhalten empfahl, ruft heute Claudia Roth zum freudigen vorweihnachtlichen Konsum auf. Wo Carl Amery ehedem die politischen Klasse ob ihrer Wachstumsfrömmigkeit mit beißender Ironie überzog, sehnt Fritz Kuhn in diesen Zeiten das nächste Konjunkturhoch herbei. Wo Joseph Beuys das Ökologische einst globalisieren wollte, erklärt Joschka Fischer nun kurzerhand, es gebe gar keine grüne Außenpolitik, sondern nur deutsche. Und wo man vor Jahren noch um eine neue Balance zwischen Güterwohlstand und Zeitwohlstand, Haben und Sein, Erwerbsarbeit und Familienarbeit rang, wird derzeit fast nur noch darüber geredet, wie sich die Kinder möglichst ganztägig in Betreuungseinrichtungen unterbringen lassen, damit alle sich mit Haut und Haaren den Anforderungen der Berufswelt verschreiben können. Man ist oft einsam als Ökologe in der grünen Partei von heute.
Es ist, als meinten manche, sie müßten sich von den grünen Ursprungsideen nur weit genug entfernen, um als modern und realitätstauglich gelten zu können. Dabei ist das im Kern sozialdemokratische Programm von Konsum, Wachstum und Vollerwerb selbst auf dem besten Wege, höchst unmodern zu werden. Es zu kopieren und bloß mit dem Präfix ökologisch zu versehen, wäre jedenfalls alles andere als ein Erfolgsmodell. Im Gegenteil: Es wäre eine tödliche Gefahr für die Grünen, weil es sie zu Öko-Jusos machen und bis zur Unkenntlichkeit verändern würde.
Viel vernünftiger ist es, im eigenen Traditionsbestand nach Anknüpfungspunkten für die Bewältigung der Gegenwartskrise Ausschau zu halten und sie zeitgemäß zu interpretieren.
Beispiel Wachstumskritik: Nicht um das Anschlagen der apokalyptischen Tonlage von 1972 ff. geht es dabei, sondern darum, die gesellschaftlichen Subsysteme soweit wie eben möglich vom Wachstumszwang zu befreien und politisch dafür einzutreten, daß Reformen beim Staat, in der Wirtschaft und in den sozialen Sicherungssystemen sich am Prinzip „Immer besser“ und nicht am Prinzip „Immer mehr“ zu orientieren haben. Im Grunde gilt es, gegen die Stimmungslage anzukämpfen, zukünftiges Wachstum mache Reformen in der Gegenwart überflüssig. Die Durchhalterhetorik („Wenn wir erst durch die Konjunkturkrise sind, wird wieder alles wie früher“) ist der schlimmste Feind der Reform.
Beispiel Verzicht: Die Einsicht, daß es so etwas wie ein rechtes Maß gibt, das ziemlich genau in der Mitte von „zu wenig“ und „zuviel“ liegt, ist eine der Gründungsideen der weltweiten grünen Bewegung gewesen. Nie war sie aktueller als heute, wo es in vielen Bereichen um ein Zurückschrauben von Anspruchshaltungen geht. Nur wenn der einzelne realistisch einschätzt, was er von der Solidargemeinschaft erwarten darf und von sich selbst erwarten muß, wird der Sozialstaat zu erhalten sein. Verzicht aus Einsicht und Verantwortung wird sich aber kollektiv nur organisieren lassen, und hier liegt die Verantwortung der Politik, wenn die Wende zum Weniger von der Mehrheit als einigermaßen gerecht empfunden wird.
Schirrmachers These, die Grünen würden die bürgerlichen Tugenden, die zur Erbringung von Opfern für große Ziele erforderlich seien, lächerlich machen und zerstören, ist arg hochgegriffen. Aber Fragen gefallen lassen müssen wir Grünen uns schon: Warum war das Abschmelzen des Ehegattensplittings angeblich so wichtig, wo doch klar ist, daß Gemeinsinn und soziale Kohäsion am ehesten in Familien entstehen? Wie konnte es passieren, daß in den Koalitionsverhandlungen zunächst die Abschaffung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von gemeinnützigen Unternehmensspenden vereinbart wurde, obwohl jeder wissen konnte, wie sehr soziale, kulturelle und ökologische Einrichtungen davon abhängen und wie dringend wir eine neue Stifterkultur brauchen? Wieso haben wir beim Streit um die Rentenbeitragssätze akzeptiert, daß die Last voll bei den Jungen abgeladen wird, und verlassen uns nun wieder auf eine jener korporatistischen Konsenskommissionen, die heute in Deutschland wuchern und dem Parlament schleichend die Legitimation entziehen? Und was die Ökologie anlangt: Drückt das Kleinhacken dieser großen Menschheitsfrage in mundgerechte Öko-Häppchen nicht zuweilen wirklich einen Mangel an Ernsthaftigkeit aus, der dem Thema eher schadet als nutzt?
Über diese Fragen sollten wir nachdenken. Es sind keine Fragen von Rechten an Linke. Oder muß man wirklich daran erinnern, daß die Grünen einst mit dem Slogan gegründet wurden: „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn!“. Die Grünen müssen sich und der Gesellschaft wieder mehr Wahrheiten zumuten, auch unliebsame. Dafür sind sie da, dafür werden sie gewählt. Ob die Bereitschaft des Bürgertums, zum Zwecke von Ökologie und nachhaltiger Entwicklung Opfer zu bringen, wirklich so groß ist, wie Frank Schirrmacher annimmt, wird man sehen. Zweifel sind angebracht. Aber hoffen sollte man auch dürfen.
Reinhard Loske, geb. 1959, ist stellvertretender Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion und Mitglied im grünen Parteirat. Sein Hauptarbeitsfeld ist die Umweltpolitik; vor kurzem wurde er auch zum neuen Leiter der AG Gentechnik seiner Fraktion gewählt.