Schwarzrotgold als Party-Deko: Fußballdeutschland und seine neue Religion der Freude
Von Norbert Bolz
Die Fußballweltmeisterschaft ist für Deutschland das, was der
Biologe Adolf Portmann einmal das „Organ des SichZeigens“ genannt hat.
Sie funktioniert ähnlich wie die Mode. Das Fußballfest ist Spektakel,
Event und Ritual zugleich. Als Spektakel befriedigt es die Schaulust
und Neugier; als Event beschwört es die Aura des Einmaligen; als Ritual
suggeriert es Sinnstiftung.
Die WM erinnert uns an den
ursprünglichen Zusammenhang von Kult, Kunst und Spiel. Dieses
semantische Feld, nämlich Jubeln, Prunken und Feiern, wird heute wieder
von der Kultur der Wirtschaft besetzt. Das ist ein Vorgang von nicht zu
ü berschätzender Tragweite. Endlich haben wir ein entspanntes,
konsumistisches Verhältnis zu unseren nationalen Symbolen, zu Hymne und
Flagge erreicht.
Noch
in den späten siebziger Jahren wäre nichts unmöglicher gewesen als ein
Lob des Lobens. Jedes Fest ist ein Ausdruck der Zustimmungskultur, also
ein Medium apollinischer Affirmation. Es stellt unsere Zustimmung zur
Welt und damit den Gegenpol zur kritischen Bewusstseinskultur dar. Mit
anderen Worten, das Fest ist die Kultform einer „Religion der Freude“
(Richard Harder).
Mehr als jede sportliche Großveranstaltung
zuvor bietet die WM 2006 die gelungene Entlastung vom Alltag, den
kultivierten Ausnahmezustand. Insofern steht sie in einer Reihe mit
Phänomenen wie Ferien, Party und Virtual Reality. Stets handelt es sich
um ein Spiel mit der eigenen Identität und dem Alltag. Immer mehr
Menschen suchen die Selbstverwandlung im Fest: Man macht sich schön,
geht zum Ereignis und dann gut essen. Das genügt meist schon für den
Ausnahmezustand der Seele. Die Festgemeinschaft feiert sich selbst: ob
beim Opernball in Wien oder mit La Ola im Stadion. Für die WM gilt
tatsächlich: Dabeisein ist alles! Der Volksmund weiß: Man muss die
Feste feiern, wie sie fallen. Denn das Fest ist seine Feier, und man
feiert es, weil es da ist.
Davon profitieren vor allem auch
die Massenmedien, die mit großem Erfolg versucht haben, die gesamte
Weltbevölkerung in das Spektakel einzubeziehen: Auch im Gaza-Streifen
schaut man mit Hilfe von Notstromaggregaten Fußball! Was den
Fernsehmachern hierzulande wohl vorschwebt, ist eine Synthese von
Fußballspiel und Love Parade. Damit werden sie einem neuen Fan-Typus
gerecht, dem es weniger um Fachsimpelei als vielmehr um Spaß und gute
Laune geht. Wer heute schwarz-rot- goldne Fähnchen schwenkt,
kommuniziert nicht „Deutschland über alles“, sondern „Let’s have a
party“.
Der fröhliche, gelassene Patriotismus von vielen
Millionen deutschen Fans ist die wirksamste Waffe gegen den
Nationalismus der Rechtsextremen. Die vielen schwarzrotgoldenen
Fähnchen, die an Geschäften und Autofenstern befestigt sind, wirken
wohl auch auf ausländische Beobachter nicht chauvinistisch, sondern
verspielt und heiter. Die Botschaft dieses Großereignisses lautet:
Gastfreundschaft. Wenn man heute auf die Straßen schaut, könnte man von
einem Verschwinden der Nationalflagge in ihrer Allgegenwart sprechen.
Damit ist die Entnazifizierung abgeschlossen. Deutschland entkrampft
sich – Abschied vom „typisch deutsch“.
Und all das verdanken
wir dem unvergleichlichen Spiel: Fußball. Die großen Spieler sind
Helden, denn ihre Welt ist transparent und klar begrenzt; sie wollen
den Gegner dominieren, die Besten sein; und wenn sie verlieren, gibt es
keine Entschuldigung. Du triffst den Ball – oder nicht. Da hilft kein
Moralisieren, Psychologisieren oder der Hinweis auf eine tragische
Kindheit. Sport findet in Echtzeit statt. Es gibt kein Nachdenken, die
Anstrengung ist so klar erkennbar wie ihr Effekt, und es gibt ein
klares Ergebnis.
Während in der Politik – vor allem nach Wahlen
– alle als Sieger auftreten dürfen, und die Wirtschaft sorgsam
vertuscht, dass ihr Triumphzug über namenlose Verlierer hinwegzieht,
produziert Fußball in aller Deutlichkeit Sieger und Verlierer. Nur hier
winkt uns noch die Anerkennung als „überlegen“ und „besser“. Nur im
Sport darf man noch siegen. Während ein Sieg, diese antike Gestalt des
Glücks, in unserer Kultur der Gleichheit ü berall sonst eine
Peinlichkeit oder gar ein Skandal wäre.
In der Definition des
Fußballspiels als „schönste Nebensache der Welt“ steckt auch ein Stück
Wahrheit. Der Kampf um Anerkennung heftet sich an Kleinigkeiten. Die
Selbstbehauptung gelingt vor allem im Nebensächlichen. Gerade die
„Sinnlosigkeit“ des Spiels macht deutlich, dass es um reine Anerkennung
geht. Wenn Deutschland heute gegen Italien antritt, geht es also für
die Fans um „alles“ und um „nichts“ – um das Nichts des Weiterkommens
und um das Alles der Anerkennung.
Dem Sportfeind und
Soziologen Thorstein Veblen ist durchaus zuzustimmen, wenn er schon vor
hundert Jahren auf die wesentliche Sinnlosigkeit und systematische
Verschwendung als Charakteristika des Sports hinwies. Warum muss man
trotzdem unbedingt zusehen, wie Deutschland gegen Italien spielt? Das
lässt sich denen, die nicht zusehen, nicht erklären. Fußball ist
buchstäblich Zeitvertreib, das heißt: Weltausgrenzung, Sein ohne Zeit.
Hier gibt es keine Sorge, sondern nur geistesgegenwärtige Körper.
Man kann deshalb nicht sagen, was ein Fußballspiel ist. Wenn jemand
danach fragt, kann man nur antworten: Geh hin und sieh! Es geht um die
Grenzen der Körperbeherrschung und das fine tuning des Körpers. Fußball
verstehen heißt, die Spielbewegung virtuell mitzuvollziehen. Letztlich
muss man wohl selbst einmal gespielt haben, um nicht nur mitfeiern,
sondern auch mitreden zu können.
Fußball fasziniert, weil das
Spiel hohe Komplexität aus einfachsten Spielregeln aufbaut. Damit ist
Unvorhersehbarkeit garantiert. Das produziert nicht nur Spannung,
sondern auch einen unaufhörlichen Erklärungsbedarf, der dann von den
Experten im Fernsehen befriedigt wird: Günther Netzer und Gerhard
Delling, Rudi Völler und Jürgen Klopp. Die Medien benutzen das wiederum
als Einfallstor für Talk und Entertainment. Noch mehr, als gespielt
wird, wird geredet und inszeniert. Und genau deshalb haben auch die
Fußball-Laien eine Chance, die Weltmeisterschaft zu genießen. Fußball
für alle!
So naiv es klingen mag: Im Sport muss es mit
rechten Dingen zugehen. Fußball ist die heile Welt der Leistung, die im
Wettkampf Ehrlichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit verspricht. Ohne
Umschweife kommt der Spieler zur Sache: das Wesentliche – sonst ist da
nichts. Und das Wesentliche ist eben, den anderen zu besiegen, um dann
als der Bessere anerkannt zu werden. Zidane, nicht Ronaldo. So bietet
gerade der Profifußball – allen Millionentransfers zum Trotz – eine
Popkultur der Authentizität. Heute Abend in Dortmund.
Der Autor
lehrt Medienwissenschaften an der TU Berlin. Zuletzt erschienen von ihm
der Zukunftsessay „Blindflug mit Zuschauer“ sowie „Die Helden der
Familie“ (beide Fink Verlag, München)