Die Ansicht, wonach unsere gesellschaftlichen
Lebensformen heute ihre strukturelle Gefügtheit verlieren,
das berechtigte Maß, auf das hin die Subjekte ihren Lebensentwurf, ihre
Biographie und Identität ausrichten können, kann man heute in jeder
Illustrierten nachlesen. Daß der Marxsche Begriff vom Klassenkampf irgendwie
die komplexe Realität in den westlichen Metropolen nicht mehr völlig erfaßt,
meinen heute selbst linientreue DKP-Theoretiker. Und das nicht nur, weil sie
zu oft und zu lange Gorbatschows Thesen von den alle Klassenfragen
zweitrangig machenden globalen Gefahren propagiert hatten. Gebildete Leute,
die seit zwanzig Jahren im selben Strickpullover herumlaufen, die gegen die
Wechsel der Mode, der Musik und der Lebensstile völlig immun sind, lassen
sich heute über den "postmodemen Diskurs" aus und konstatieren die
'Verbreitung eines lässigen Pluralismus, ein heterogenes Sortiment von
Lebensstilen und Sprachspielen, eine allgemeine ästhetische Aufheiterung."
Die mit massivem Mitgliederschwund
kämpfenden, systemkonformen Jugendverbände geben Studien in Auftrag, um
etwas über die immer aufwendiger werdenden jugendlichen
Selbstdarstellungsstrategien, auch 'Identitätsarbeit" genannt,
herauszufinden. Auf der anderen Seite stehen jene, die dem bürgerlichen
Evergreen vom "Ende des Klassenkampfes" noch nie über den Weg trauten, die
wissen, daß Skepsis angebracht ist, wenn bekannte opportunistische Figuren
und Zeitgeistschreiber wohlfeile Worte für neue Phänomene anbieten, zumal
man ja seit E. P. Thompson und Pierre Bourdieu weiß. daß Soziologie und
Öffentlichkeit die von ihnen behaupteten Phänomene auch zur Realität machen
können. Edward P. Thompson hat in seinem Buch, "Die Entstehung der
englischen Arbeiterklasse" nachgewiesen, daß die Entwicklung des
Kapitalismus zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die
Entstehung der Arbeiterklasse war. Wie wenig Armut und Elend automatisch zu
revolutionärem Bewußtsein führen, zeigt er am Beispiel des "King and
Church"-Mobs, der in den Jahren der französischen Revolution Personen
angriff, die mit den Revolutionären in Frankreich sympathisierten. Nicht das
absolute Ausmaß der Armut, sondern deren Erfahrung und Interpretation als
"moralisches Unrecht" ist nach Thompson die Ursache für den Widerstand.
Demnach kann eine Klasse nur in sozialen Kämpfen sichtbar werden. Umgekehrt
zeugen soziale Stabilität und fehlende Empörung nicht unbedingt von der
Abwesenheit materiellen und psychischen Elends, sondern von der
moralisch-politischen Übereinstimmung der Betroffenen mit normativen
Vorstellungen von einem sozial adäquaten Leben. Pierre Bourdieu wiederum
zeigt in "Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft", wie öffentliche Vorstellungen von Interessensidentitäten und
Distanzen zur realen Ausbildung von sozialen Gruppierungen führen können. Er
spricht von der "Klasse als Wille und Vorstellung" und zeigt, wie die
marxistische Arbeiterbewegung erst die Arbeiterklasse "machte", indem sie
die verschiedenen Ansatzpunkte für die Auflösung von Gruppenzusammenhängen
durch identitätsschaffende Losungen wie "Solidarität" relativierte:
"Wie heute in vielen Ländern die sogenannte
Arbeiterklasse existiert, ist absolut paradox: es ist dies eine gedankliche
Existenz, eine Existenz in den Köpfen eines Gutteils derjenigen, die der
Arbeiterschaft zugeordnet werden, zugleich auch in den Köpfen derer, die in
der anderen Ecke des sozialen Raumes angesiedelt sind".
Die Existenz einer Arbeiterklasse verdankt
sich demnach "dem Vorhandensein einer repräsentierten Arbeiterklasse, daß
heißt politisch-gewerkschaftlicher Apparate und bestallter Wortführer,
Funktionäre, die nicht allein ein vitales Interesse daran haben, an den
Bestand dieser Klasse zu glauben wie glauben zu machen, sondern die darüber
hinaus imstande sind, die "Arbeiterklasse" zum Sprechen zu bringen." Auch
hier gilt dann der umgekehrte Schluß: Nach der Zerschlagung der
Arbeiterklasse durch den Faschismus wurde die "Arbeiterklasse" von einer auf
Neutralisierung von Klassengegensätzen ausgerichteten Öffentlichkeit und .kompromißlerischen
Funktionären "derealisiert". Die vierzigjährige Propaganda vom "Ende des
Klassenkampfes" im deutschen Frontstaat blieb also nicht ohne Wirkung. Erst
vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die - die Vorarbeit des
Faschismus meist ausblendende -Diskussion über die Individualisierung
sozialer Lagen in Deutschland so populär ist. So wie weiße Rassisten
Afro-Amerikaner durch Ausgrenzung als "ethnische Gruppe" erst schaffen, also
schwarze Menschen verschiedener Herkunft "rassifizieren", so wurde die
deutsche "Arbeiterklasse" im Land nach dem Faschismus in der willentlichen
Vorstellung der Öffentlichkeit "ent-rassifiziert" und derealisiert. Dieser
Zustand von dessen Genesis bürgerliche Soziologen und
marxistisch-fundamentalistische Werttheoretiker gleichermaßen nichts wissen
wollen, ermöglichte in Deutschland die raschere Durchsetzung von dem
Kapitalismus immanenten 'Tendenzen", um die es in dem nachfolgenden Text
gehen soll: Die Herauslösung des einzelnen aus historisch vorgegebenen
Sozialformen im Sinne traditioneller Herrschafts- und
Versorgungszusammenhänge, der Verlust von traditionellen Sicherheiten im
Hinblick auf Handlungsweise, Glauben und leitende Normen und -
möglicherweise - die Entstehung neuer Formen sozialer Einbindung.
Wo Kollektivschicksale wie Arbeitslosigkeit
zu individualisierten persönlichen Schicksalen werden, Ungleichheiten also
sozial anders gedeutet werden als früher, ist eine klassenanalytische
Erklärung nicht mehr gefragt und in ihrer traditionellen Gestalt auch nicht
mehr haltbar.
Dieser Text versucht demgegenüber zu zeigen,
daß für Marx Individualisierungstendenzen in die Bewegung der
Kapitalakkumulation eingebunden bleiben. Mehr noch:
Es wird der Nachweis versucht, daß sich in Marx' Kritik der politischen
Ökonomie die Elemente einer Theorie und Kritik der bürgerlichen
Individualität finden, die sich mit einer Klassentheorie nicht nur
vereinbaren lassen, sondern ohne die eine Individualitätstheorie gar nicht
durchgehalten werden kann.
Ist diese Einsicht erst einmal gegeben, so
braucht man um den aktuellen Forschungsstand zeitgenössischer Soziologen
(einige davon werden in den letzten Kapiteln dieses Textes vorgestellt) auch
keinen Bogen mehr zu machen. Dann kann man zum Beispiel Bourdieus
Habitus-Theorie und Norbert Elias' Zivilisationstheorie, (insbesondere seine
Ausführungen über den modernen Zwang zum Selbstzwang) für eine dringend
notwendige Aktualisierung des Marxschen Ansatzes fruchtbar machen und sich
der historischen und empirischen Forschung der Individualitätsformen
zuwenden. Ohne diese Einsicht bleiben nur zwei Alternativen - entweder die
heroische Verteidigung eines prinzipienfesten "Klassenstandpunktes", bei der
Beurteilung von HipHop, Ikeamöbeln und Scheidungsstatistiken oder aber der
lebenslange Zwang zur Orientierung an den "In/ Out"-Listen der
Zeitgeistblätter. Für Hektik und leichtfertige Polarisierung gibt es heute
weniger Gründe als je zuvor. Erst recht nicht für eine theoretische
Überrumpelung, die in diversen Kleinstgruppierungen heute erneut zur
altbekannten Einteilung in die "Linie" vorgebende Genossen und ein
verzweifelt um angemessene "Einsicht" ringendes Fußvolk führt. Die
Entfaltung der Kategorien erfolgt in diesem Papier schrittweise und ist m.E.
auf jeder Stufe nachvollziehbar und daher kontrollierbar und kritisierbar.
Daß der Marxismus allgemein für untauglich
gehalten wird, die modernen Verhältnisse zu begreifen, geht in erster Linie
auf die vom Kapitalismus selbst produzierten Verkehrungen und Trennungen
zurück. Gemeint sind erstens die Verkehrung von Subjekt und Objekt, durch
die alle zivi-lisatorischen Tendenzen als Leistung von Kapital und Staat
erscheinen und zweitens die widersprüchliche Weise der Herausbildung von
Individualität, die sich im Kapitalismus als schroffe Gegenüberstellung der
Lebenspläne des vereinzelten Einzelnen und der Gesellschaft darstellt. (Die
Ursachen solcher Mystifikationen werden noch zur Sprache kommen.) Es ist
allerdings auch nicht zu übersehen, daß die Assoziation von "Ktassenkampf"
und "Ausbeutung" (der letzte Begriff wird bevorzugt im Sinne von
Ungerechtigkeit, mangelnder Fairneß etc. gebraucht) mit dem Marxschen Werk
durch eine ganz bestimmte Rezeption der Marxschen Kritik der politischen
Ökonomie Vorschub geleistet wurde und wird, die m.E. selbst in den
kapitalistischen Verdi nglichungen befangen bleibt. Es ist richtig, daß Marx
alle Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen bezeichnete und es
ist auch richtig, daß nach Marx der ganze kapitalistische
Gesellschaftsaufbau auf der Ausbeutung der Mehrarbeitszeit der produktiven
Arbeiter beruht. Damit ist das Ergebnis der Marxschen Untersuchungen jedoch
weder verstanden noch erschöpfend wiedergegeben. Die Essentials der
Marxschen Theorie sind nämlich, kurz gefaßt, folgende:
1. Beruht alle kapitalistische Zivilisation
auf der Abpressung von Mehrarbeitszeit, aber dies vollzieht sich im Rahmen
eines Äquivalententausches: "Arbeit" gegen Geldlohn.
2. Der Mehrwert wird kapitalistisch
akkumuliert, in Kapital zurückverwandelt und dies ohne Rücksicht auf die
Schranken der zahlungsfähigen Bedürfnisse. Deshalb werden periodisch zu
viele Produktions- und Lebensmittel produziert: Arbeitskräfte werden
überschüssig und Kapital wird entwertet.
3. Der Akkumulationsprozeß stellt sich dar
als permanente Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und diese als
Vertiefung der Arbeitsteilung, folglich als Ausdifferenzierung der
Arbeitsarten und Produkte, folglich aus Ausdifferenzierung und Erweiterung
der Bedürfnisse. Der Anteil der Lohnarbeiter an der größeren Warenmasse und
dem größeren Umfang der gesellschaftlich disponiblen (da eingesparten) Zeit
wird normalerweise fallen, obwohl die absolute Verfügung über Lebensmittel
und Lebenszeit steigen kann. Die konkrete Entwicklung hängt wesentlich (wenn
auch nicht nur) von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und
Auseinandersetzungen ab.
4. Geht dies alles einher mit einer
systematischen Verdunkelung der wirklichen Entstehungsweise des
kapitalistisch produzierten Reichtums. Spätestens mit dem Zins erscheint
Reichtum als Resultat von geldheckendem Geld. Auf der Oberfläche der
Gesellschaft erscheinen die wirklichen Zusammenhänge verkehrt. Die Subjekte
des Produktionsprozesses erscheinen als Objekte und das Kapital stellt sich
als aktives, alle Verhältnisse stets revolutionierendes Subjekt dar. Das
Bewußtsein der Beteiligten ist falsch, weil ihr Sein falsch ist. Diese
Umkehrungen sind jedoch analysierbar, daher auch
weitgehend durchschaubar, obgleich sie erst verschwinden, wenn ihre Ursachen
beseitigt sind.
5. Der Kapitalismus ist die erste
Produktionsweise, in der die Arbeitskräfte allein Sachzwängen gehorchen und
nicht patriarchalischer Willkür unterworfen sind. Da sie Geld erhalten und
über den Verkauf ihrer Arbeitskraft ebenso frei bestimmen können wie über
die Verausgabung ihrer Revenue, findet historisch erstmals eine
Individualisierung der Personen statt. Gründe wie auch Grenzen (bzw.
widersprüchliche Verlaufsform) dieser Individualisierung sind einer
theoretischen Analyse zugänglich. Beides ist vorzugsweise in der
Produktionsweise selbst zu suchen. Die konkreten Formen und die historische
Genesis dieser Individualitätsformen sind aber Sache selbständiger
materialistischer Untersuchungen. Das sind also - sehr gedrängt - die wohl
wichtigsten Entdeckungen von Marx.
Der Klassenantagonismus (das
Kapitalverhältnis) und der "Diebstahl fremder Arbeitszeit" (Marx) sind
zentrale Strukturmerkmale der kapitalistischen Realität, was jedoch an der
Oberfläche der Gesellschaft nicht unbedingt sichtbar ist. Man sieht nun. daß
die Reduktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf
"Klassenkampf" und "Ausbeutung" eine unzulässige
Vereinfachung darstellt. Historisch gab es einmal Verhältnisse, die solche
Vereinfachungen als plausibler erscheinen ließen, als dies heute der Fall
ist. Als es noch politische Massenkämpfe organisierter Arbeiter gab und das
Elend der Lohnarbeit sich anschaulicher als physisches und psychisches Elend
darstellte als heute, als sich zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse
weitaus weniger differenziert darstellten als gegenwärtig,
da konnte man mit solchen Vereinfachungen sogar Politik machen. Falsch waren
sie trotzdem und daher mußte eine solchermaßen fundierte Politik mit jedem
kapitalistischen Modernisierungsschub, aber auch mit jedem wirklich
erkämpften Erfolg in krisenhafte Situationen geraten. Marx selbst hat sich
wiederholt gegen populistische Verkürzungen seiner Theorie aussprechen
müssen; seine Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratischen Partei
ist nur der bekannteste Fall. Die lange Tradition einer reduktionistischen
Marxinterpretation (die auch heute noch ihre Fortsetzer findet) blieb nicht
ohne Folgen. Der gegenwärtige Zustand der auf Marx aufbauenden Theorie ist
etwa so zu beschreiben:
1. Nach wie vor ist eine zutreffende
Rekonstruktion des Marxschen Werkes in Kritik der genannten Verkürzungen zu
leisten. Hierbei gibt es immerhin einige Erfolge.
2. Marx ist mit seinen Ausarbeitungen nicht
fertig geworden; manches hat er nur angedeutet. Das System seiner Kategorien
ist also zu vervollständigen (z.B. Kredit, Konkurrenz der Lohnarbeiter,
Weltmarkt).
3. Manches von Marx ist auch fehlerhaft, z.B.
seine Schriften "Lohnarbeit und Kapital" oder die mit Engels verfaßte
"Deutsche Ideologie". Solche Fehler wurden schon
kritisiert, aber diese Kritik ist noch nicht durchgesetzt.
4. An dem so häufigen wie banalen Argument,
daß Marx schon lange tot und seine Theorie daher veraltet ist, ist so viel
richtig, daß die Leistungen der theoretischen Marxisten bei der Analyse
neuerer Erscheinungen entweder bescheiden oder sogar falsch sind. Letzteres
gilt m.E. etwa für die Analyse des "sozialen Rechtsstaates" als
"staatsmonopolistischer Kapitalismus". Bescheiden sind die Erfolge
insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung von Alltagsleben und
Alltagsdenken. (Genaueres dazu im Text.) Macht es unter diesen
Voraussetzungen überhaupt einen Sinn, die moderne Welt und den modernen
Menschen mit Hilfe von Marx erklären zu wollen? Ich denke ja, und das soll
in dieser Arbeit begründet werden.
Analyse des bürgerlichen Individuums in
einer Kritik der politischen Ökonomie?
Marx' Hauptwerk ist das "Kapital". Wenn wir
also wissen wollen, was Marx über das bürgerliche Individuum zu sagen hat,
dann müssen wir uns in erster Linie an dieses Werk halten und nicht etwa an
verschiedene frühere mehr "philosophische" Texte. Es geht ja gerade darum,
ob in einem "ökonomischen" Werk überhaupt Individuen vorkommen und falls ja,
wie? Genauer gesagt, geht es darum herauszufinden, wie bei Marx die
"objektive Struktur" der Gesellschaft mit dem offensichtlich relativ
autonomen Handeln selbstbewußter Individuen zusammenpaßt.
Was wir hier zunächst wissen wollen, ist, ob
Marx davon ausging, diese prinzipiell als notwendig erkannte Aufgabe
innerhalb eines der Kritik der politischen Ökonomie gewidmeten Werkes
leisten zu können und falls ja, wieweit er sie verwirklichen konnte. Von
einem zutreffenden Urteil über diesen Sachverhalt hängt ganz einfach ab, was
man von Marx Werk mit gutem Grund erwarten kann und was nicht. Wer dort z.B.
eine ausgearbeitete Psychologie bürgerlicher Individuen suchen würde, müßte
enttäuscht feststellen, daß er seine Zeit vertan hat. Wir können die Sache
kurz halten: Das erste Buch des "Kapital" handelt vom Produktionsprozeß des
Kapitals, das zweite Buch vom Zirkulationsprozeß und das dritte Buch vom
Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion.
Der Gegenstand des Marxschen Kapitals ist
nicht der gleiche wie der der "Volkswirtschaftslehre". Während diese unter
Kapital "alle bei der Erzeugung beteiligten Produktionsmittel wie Werkzeug,
Maschinen und Anlagen" versteht und sich nicht so recht darüber im klaren
ist, ob man auch das Geld dazu zählen soll (1), stellt Marx sich eine ganz
andere Aufgabe: "Was ich in diesem Werk zu erforschen
habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden
Produktions- und Verkehrsverhällnisse." (2) Marx' Ausgangspunkt ist die für
die Menschen bestehende Notwendigkeit der Erhaltung ihres Lebens, die sie
zwingt, die äußere Natur entsprechend den eigenen Bedürfnissen zu verändern,
was sie nur können, wenn sie sich zueinander verhalten, d. h.
gesellschaftliche Beziehungen eingehen. Diese jeweiligen historisch-sozialen
Verhältnisse korrespondieren mit bestimmten Niveaus der Produktivkräfte der
gemeinschaftlichen Arbeit und beides zusammengenommen stellt eine jeweils
spezifische Strukturierung einer Gesellschaft dar, die Marx
"Produktionsverhältnisse" nennt und die er für den gesamten Lebensprozeß der
darin sich bewegenden Individuen als bestimmend ansieht. Die kapitalistische
Produktionsweise gilt ihm dabei nur als eine - wie jede andere auch -
geschichtlich gewordene und besondere Form der Auseinandersetzung mit der
äußeren Natur. Sie ist vor allem durch zwei Merkmale von den vorangegangenen
Formen zu unterscheiden:
Erstens dadurch, daß die Produktion von Waren
(als zusammen mit der Geldzirkulation entscheidende Voraussetzung der
Kapitalbildung) die vorherrschende Produktion ist, wozu auch gehört, daß die
menschliche Kraftpotenz (deren Tauschwert zu bezahlen ist, wenn ihr
Gebrauchswert genutzt werden soll) selbst zur Ware wird. Zum zweiten ist die
"differentia specifica" der kapitalistischen Produktion zu nennen:
Der Zweck des Kaufs der Arbeitskraft besteht nicht nur nicht in der
Produktion von Gebrauchswerten - das gilt für jede Warenproduktion - ,
sondern überhaupt nicht in der Befriedigung der privaten Bedürfnisse des
Käufers: "Sein Zweck ist Verwertung seines Kapitals. Produktion von Waren,
die mehr Arbeit enthalten, als er zahlt, also einen Wertteil enthalten, der
Ihn nichts kostet und dennoch durch den Warenverkauf realisiert wird.
Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser
Produktionsweise." (3) Hierbei entscheidend ist die Form der Lohn-Arbeit,
die auch die Mehrarbeit als bezahlt erscheinen läßt, in der also das
Äquivalenzprinzip der Warenproduktion garantiert ist und die es möglich
macht, daß Ausbeutung erstmals an von persönlichen
Abhängigkeitsverhältnissen freien Arbeitern vollzogen werden kann: der Zwang
liegt nun allgemein in den Verhältnissen und konkret in der Kontrolle des
Kapitalisten über den Produktionsprozeß. Das jedesmalige Ergebnis des
Produktionsprozesses besteht nicht nur in der Schaffung der materiellen
Lebensbedingungen, sondern auch in der Reproduktion der darin
eingcschlossenen Verhältnisse der Menschen
zueinander. Jede Produktion ist zugleich Reproduktion, d.h. die materiellen
Produkte, wie auch die gesellschaftlichen Beziehungen sind immer zugleich
Voraussetzungen und wiederkehrende Resultate des kapitalistischen
Produktionsprozesses. Diese Beständigkeit muß dort
als naturnotwendig erscheinen, wo die Reproduktion
kein selbstbewußter Akt der Gesellschaft ist. Hierdurch werden Produktion
und gesellschaftliche Beziehungen mystifiziert, - letztere stellen sich als
unmittelbare Eigenschaften von Dingen ("Geld macht glücklich" etc.) und als
Verhältnis der Personen zu den sozialen Eigenschaften dieser Dinge dar. Auf
diese Weise wird das Wesen des Kapitalismus in den erscheinenden Formen
verleugnet. Die Träger dieser Produktionsweise leben in diesem Sinne in
einer "verzauberten und verkehrten Welt" (4). Die kapitalistische Weit ist
jedoch nicht die erste sich als verzaubert darstellende; sie weist jedoch
spezifische Verkehrungen auf, die sich von denen vorangegangener oder
anderer (z.B. asiatischer) Welten qualitativ unterscheiden. Darauf werden
wir unten genauer eingehen. Die erwähnte Vorstellung der VWL, wonach Kapital
Maschinerie oder Geld wäre, bestätigt im übrigen nur die Marxsche Analyse
der Verdinglichung: "Kapital ist kein Ding, sowenig wie Geld ein Ding ist.
Im Kapital, wie im Geld, stellen sich bestimmte gesellschaftliche
Produktionsverhältnisse der Personen als Verhältnis von Dingen zu Personen
dar, oder erscheinen bestimmte gesellschaftliche Beziehungen als
gesellschaftliche Natureigenschaften von Dingen." (5) Marx handelt also
nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen. Diese kurze
Zusammenfassung umreißt in etwa den Gegenstand der Marxschen Theorie. Es
geht Marx also um die Produktions- und um die (zwischenmenschlichen,
innergesellschaftlichen) Verkehrsverhältnisse der kapitalistischen
Produktionsweise, wobei er u.a. zu dem Resultat gelangte, daß auf der
sichtbaren Oberfläche vieles anders erscheint, als es "in Wirklichkeit"
zusammenhängt, "ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem
verständlich (ist), der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare
Bewegung kennt." (6) Um diese Verdinglichung dechiffrieren zu können, mußte
Marx seine gefundenen Bestimmungen zu einem spezifischen Kategorien-System
verbinden, innerhalb dessen ein "Auf- oder Abstieg" zwischen den
abstraktesten und den konkretesien Kategorien möglich bleibt. Es soll hier
nicht viel über die häufig zitierte Marxsche Methode des "Aufsteigens vom
Abstrakten zum Konkreten" gesagt werden. Sie besagt nur, daß das "Konkrete",
mit dem wir täglich umgehen, bereits die Zusammenfassung vieler Bestimmungen
enthält.
Die Unterscheidung zwischen Erscheinungen
und Wesen
"Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die
Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." (7)
Diese bekannte Marxsche Formulierung steht nicht zufällig im
Zusammenhang mit der Analyse der sogenannten "trinitarischen Formel" am Ende
des dritten Bandes des "Kapital". Sie richtet sich dort speziell gegen Marx'
Lieblingsfeinde - die "Vulgärökonomen"- die nach
seiner Auffassung einen Teil der 'lebensweltlichen Erfahrungen" der
bürgerlichen Individuen doktrinär verdolmetschen, systematisieren und
apologetisieren. Sie tun das - so Marx -, weil sie sich selbst in den
"entfremdeten Erscheinungsformen der ökonomischen Verhältnisse ...
vollkommen bei sich" fühlen.
Die Fragen nach dem "Wesen" der Dinge (odernach
ihrer 'Inneren Logik", ihrem "inneren Zusammenhang", nach den
"Gesetzmäßigkeiten" etc.) und nach der Beziehung zwischen ihm und den
Erscheinungen bilden von jeher Kernpunkte wissenschaftstheoretischer
Auseinandersetzungen. Für den Positivisten Popper - der sich ausdrücklich
gegen Marx wendet - ist die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung schon
deshalb unerheblich, weil sich der Wesensbegriff der sinnlichen Erfahrung
angeblich verschließt und für diese daher kein Gegenstand sein kann. Eine
Wissenschaft, die sich mit dem Faktischen und Regelmäßigen zu befassen habe,
könne daher mit der Methode der Falsifizierung ihre Ziele gut erreichen und
brauche auf solche "metaphysischen" Kategorien wie "Wesen" nicht
zurückzugreifen. Demgegenüber existieren für Marx und Engels nicht nur in
der Natur wesentliche und mit den Erscheinungen nicht identische
Zusammenhänge, sondern auch in der Gesellschaft. Während es sich jedoch
hierbei in der Natur um "bewußtlose blinde" Agenzien handele, seien die in
der Geschichte Handelnden lauter mit Bewußtsein und Leidenschaften begabte
und handelnde, sich Zwecke setzende Menschen. Diese Menschen wirkien jedoch
unter bestimmten Bedingungen so aufeinander ein, daß dabei etwas Ungewolltes
herauskomme. Unter diesem Resultat steckten daher "innere verborgene
Gesetze", die es zu erforschen gälte (8). Wie sollen diese Gesetze aber
herausgefunden werden? Die Marxsche Methode besteht darin, das "Konkrete"
schrittweise und ideel (also nicht zu verwechseln mit dem wirklichen
Entstehungsprozeß) zu rekonstruieren, wobei stets von den einfachsten,
abstraktesten (Abstraktion heißt Trennung) Bestimmungen auszugehen sei, bis
man dann wieder beim "Konkreten" ankommt, was natürlich nur gelingt, wenn
die Rekonstruktionsschritte zutreffend waren. Mit Marx' Worten: "Die
Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie
besteht, weglasse (... ) Finge ich also bei der Bevölkerung an, so wäre das
eine chaotische Vorstellung des Ganzen. Es gilt deshalb "von dem Einfachen,
wie Arbeit, (...) Tauschwert (...) bis zum Staat, Austausch der Nationen und
Weltmarkt" aufzusteigen (9). Marx hat dann mit der Ware als der "Elementarfonn"
des bürgerlichen Reichtums angefangen und nach deren
Substanz gesucht. Allerdings nur in der Darstellung und nachdem er den
Gcsamtzusammenhang schon im Kopf hatte.
Marx beginnt mit der Kritik der Grundlagen
der Abstraktionen der bürgerlichen Ökonomie, d. h. mit ihrer immanenten
Kritik, um so zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, von Logik und
Empirie, von Kapital im allgemeinen und Konkurrenz vorzudringen. In der
kritischen Aufarbeitung von Adam Smith unterscheidet Marx einen esoterischen
und exoterischen Teil seines Werks, d. h. den Teil, der wissenschaftliche
Analyse darstellt und den, der nur die Erscheinungen der Oberfläche des
Kapitals systematisiert (welcher Teil sich später als Vulgärökonomie von der
klassischen trennt) (10). Marx' Vorwurf gegen Smith besteht also darin, daß
dieser zwischen empirischer und logischer Ebene nicht unterschieden habe.
Diesen Gedanken verfolgt Marx auch in der Kritik an Ricardo. Ricardo nämlich
ist der erste, der mit dem Durcheinander zwischen esoterischer (Logik) und
exoterischer Betrachtungsweise (Empirie) Schluß macht.
Marx selbst entwickelt aus der Kritik an
Ricardos Methode, die Erscheinungsformen unvermittelt mit ihrem Wesen zu
konfrontieren, sie auf ihr Wesen zu reduzieren, die Forderung, die
Erscheinungsformen aus dem Wesen als notwendige und notwendig "verkehrt"
auftretende zu entwickeln. Die Empirie ist dem Wesen
weder äußerlich noch auf dieses reduzierbar, sie muß sich über
Zwischcnschritte herleiten lassen. Die Durchsetzung
der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise ist kein
selbstbewußter Akt, sie vollzieht sich "hinter dem Rücken" der Beteiligten
und ist deshalb mit ihren Motiven nicht unbedingt identisch. Die Analyse des
Durchgesetzten und dessen, was sich durchsetzt, ist deshalb ebenfalls zu
trennen. Logische Kategorien wie etwa "relativer Mehrwert" gehen nicht in
die Zweckset-zung der Menschen ein. Bei der Analyse der grundlegenden
Gesetze ist deshalb von der Handlungsebene, der Ebene der Konkurrenz, zu
abstrahieren. Diese Ebene mit ihrer eigenen Formenvielfalt ist getrennt
(aber als Form von etwas) zu untersuchen. Bei dieser Handlungsebene kann es
sich allerdings nur um eine idealisierte Ebene handeln, um - wie Marx sagt
-"idealen Durchschnitt" (11).
Anmerkungen
(1) vgl das VWi-Lehrbuch: Woll,A. 1981: Allgemeine
Volkswirtschaftslehre, München.
(2)-(7) Marx 1974b l, S.12; W4b l, 5.647;
1974h III, S.835; 1969b, s.32, ähnlich 1974b III. S.822; 1974b l, S. 335;
1974b III, 5.825.
(8) vgl. Engels, F. 1975: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
Philosophie, in: MEW 21,S.296f.
(9) - (11) vgl. Marx 1974a, S.21f; W4c II, S. 100; 1974b 111,5.839.
Editorische Anmerkungen
Der vorliegende Text erschien
in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL - links & radikal, Nr. 88,
1993, S. 32ff, OCR-Scan by red. trend
Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter
Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und
Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt.
Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches
Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem
Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag)
nachgedruckt wurde.
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