DAS ENDE DES PROLETARIATS ALS ANFANG DER
REVOLUTION

aus Krisis 10, Januar 1991

Ernst Lohoff


Ueber den logischen Zusammenhang von Krisen- und Revolutionstheorie


1. Krise der Revolutionstheorie

Die moderne buergerliche Gesellschaft treibt zielsicher in Richtung Reproduktionsunfaehigkeit. Seit dem Bericht des Club of Rome ist die Einsicht in die suizidalen Tendenzen der herrschenden Form von Weltgesellschaft auch tief ins Alltagsbewusstsein eingesickert. Druckfrische Tatarenmeldungen aus Oekologie, Oekonomie und Politik versorgen ein mittlerweile tief verwurzeltes diffuses und laengst nicht mehr auf die oekologische Frage eindeutig zentriertes Krisengefuehl bestaendig mit neuer Nahrung. Trotz der Haeufung objektiver Krisensymptome scheint die buergerliche Verkehrsform auf der "subjektiven" Seite hingegen ungefaehrdeter denn je. Die ehemals "systemoppositionellen" Stroemungen erweisen sich angesichts der realen Probleme unserer Zeit als ebenso begriffs- wie hilflos und danken sang- und klanglos ab. In ihrem desolaten geistigen und organisatorischen Zustand stellen sie keine Herausforderung mehr dar, sondern liefern im Gegenteil noch die Legitimation fuer die Fortschreibung des Status quo. Angesichts des Desasters oppositionellen Denkens kann sich die herrschende buergerliche Vergesellschaftungsform ein bestechendes Argument zugute halten. Sie gilt anerkanntermassen als alternativlos. Die Fundamentalopposition muss alle Pfauenfedern lassen und schrumpft auf den anklagend erhobenen Zeigefinger zusammen. Sie verkommt zur besinnlich-griesgraemlichen Untermalung, waehrend die Modernisierer und Reformer besinnungslos ihr armseliges Geschaeftchen weiterverrichten.
In dieses ideologische Ensemble ordnet sich als ein Kernstueck die Misere des marxistischen Denkens ein. Die langjaehrige Krise des Marxismus endete mit dessen endgueltigem Konkurs. Das Debakel trifft allerdings nicht alle Bestandteile der Marxschen Theorie gleichermassen. Der Bankrott des Marxismus besteht in erster Linie im klaeglichen Scheitern seines revolutionaeren, die buergerlichen Verhaeltnisse transzendierenden Anspruchs. Waehrend Marx als Theoretiker kapitalistischer Entwicklung posthum auch von seinen Gegnern noch ab und an ob seiner analytischen Weitsicht mit Bluemchen versorgt wird, ist seine Vision von der Aufhebung der buergerlichen Produktionsweise laengst als der toteste aller toten Hunde abgeschrieben. Feuilltonisten und andere Leichenfledderer brauchen auch heute nicht davor zurueckzuscheuen, sich aus den Gedanken von Marx ebenso freundlich-freigiebig zu bedienen wie sie bei anderer Gelegenheit Aristoteles, Thomas von Aquin oder die franzoesischen Aufklaerer ausschlachten. Seine "Entfremdungstheorie" kann als Evergreen gelten. Nur eins verbietet sich bei diesem Rekurs ebenso selbstverstaendlich wie zwingend - eine revolutionaere, transbuergerliche Perspektive. Wer den Marxschen Gedanken einer moeglichen Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft weiterspinnt, begeht einen unverzeihlichen faux pas und gibt sich der Laecherlichkeit preis. Er stellt sich ausserhalb jedes "rationalen Diskurses" und desavouiert sich mit dieser "eschatologischen Heilserwartung" unabhaengig vom Begruendungszusammenhang, aus dem heraus er das moegliche Ende der buergerlichen Gesellschaft proklamiert. Auch linken Ohren klingt die Rede vom "transitorischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise" reichlich obskur. Der Rest der Menschheitsgeschichte scheint zumindest auf absehbare Zeit an die buergerliche Form gekoppelt und deren Beseitigung wird unweigerlich mit dem Uebergang zur blanken Barbarei identifiziert 1
.
Dieses Grundmuster beschraenkt sich nicht auf die rechten und linken Apologeten der buergerlichen Gesellschaft, es reproduziert sich auch dort, wo Theorie an ihrer kritischen Spitze festhaelt und bestrebt ist sich dem stillen Einverstaendnis mit dem herrschenden Status quo zu verweigern. Jener minoritaere Teil der aktuellen Marxrezeption, der keinen Frieden mit der bestehenden Ordnung geschlossen hat, schlaegt sich vor der Zumutung so etwas wie Revolution zu denken, adornitisch in die Buesche. In der von der Kritischen Theorie inspirierten Lesart faellt das konsequente Insistieren auf Fundamentalkritik mit dem Verzweifeln an jeder revolutionaeren, die negative Vergesellschaftung transzendierenden Perspektive in eins. Die Aufhebung buergerlicher Herrschaft ist ebenso dringend notwendig wie unmoeglich 2
. Diese Quintessenz hat sich zum Paradigma versteinert. Das Verschmelzen von Kritik und Aussichtslosigkeit bedarf gewoehnlich gar keiner Herleitung und Begruendung mehr, es ist als implizite Vorgabe jeder analytischen Bemuehung immer schon stillschweigend vorausgesetzt 3
. Natuerlich gibt es keine Regel ohne Ausnahme. In unserem Fall traegt sie vor allem den Namen Stefan Breuer. Er versucht in seiner "Krise der Revolutionstheorie" den Zusammenhang zwischen Radikalkritik und entschiedener Ablehnung aller "revolutionaristischen Illusionen" selbstaendig und explizit zu begruenden. Dieser Ansatz hebt sich angenehm vom bewusstlosen Wiedergekaeue abgestandener Paradigmen der Kritischen Theorie ab, mit dem die Apologeten der klassischen Frankfurter Schule es sich in ihrer Verzweiflung an der revolutionaeren Perspektive ansonsten intellektuell bequem machen, und verdient von daher besondere Beachtung.
Breuer macht bei seiner Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie zwei einander diametral entgegengesetzte Theoriestraenge aus, die im Werk der Klassiker unvermittelt nebeneinander existieren. Marx weist in seiner Fetischismuskritik einerseits nach, dass die Herrschaft der Wertform nur Raum fuer konstituierte, der Botmaessigkeit des Kapitals restlos unterworfenen Subjektivitaet laesst, andererseits vertritt er eine von diesem Denkansatz vollkommen entkoppelte "arbeitsontologisch" argumentierende Revolutionstheorie.
"Waehrend Marx - um eine Unterscheidung der aelteren Hegelinterpretation aufzugreifen - der >esoterische <Marx mit einer Radikalitaet wie kein anderer Theoretiker die abstrakt-repressive Natur der buergerlichen Vergesellschaftung aufdeckte, die alle ihr nicht entsprechenden Lebens-, Verkehrs- und Produktionsweisen gewaltsam eliminierte denn was war sie anderes als die>>voellige Unterjochung der Individualitaet unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Maechten, ja von uebermaechtigen Sachenannehmen , neigte der exoterische Marx zu einer Revokation seiner Einsicht, dass Vergesellschaftung der Produktion in der kapitalistischen Produktionsweise stets nur abstrakte Vergesellschaftung bedeuten konnte4 ".
Um das Proletariat als revolutionaeres Subjekt, und damit die revolutionaere Perspektive ueberhaupt, zu retten, faellt Marx bei seinen revolutionstheoretischen Ueberlegungen genau wie seine Epigonen hinter das von der Kritik der politischen Oekonomie gesetzte Reflexionsniveau zurueck. Er behandelt statt dessen das Proletariat als eine dem Kapital wesensfremde, ihm nur aeusserlich unterworfene Macht.
"Um kontrafaktisch weiterhin an seinen revolutionaeren Hoffnungen festhalten zu koennen und sie zugleich auf objektive Prozesse zu gruenden...wich Marx vor den Konsequenzen seiner eigenen Theorie zurueck und machte aus der spezifisch kapitalistischen Form der Arbeit einen archimedischen Punkt jenseits aller Formbestimmtheit, von dem aus die Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise gefuehrt werden konnte,und dessen Existenz die Moeglichkeit der Entstehung eines neuen, wahrhaft humanen Subjekts verbuergte 5
".
Marx kann sich nach Breuer nur deshalb ueberhaupt eine transbuergerliche Perspektive vorgaukeln, weil er bei seinen revolutionstheoretischen Ueberlegungen die Arbeit als ontologischen Gegensatz zum Kapital behandelt und davon ausgeht, dass die Wesenheit Arbeit in ihrem Kernbestand von der Herrschaft des Kapitals nicht affiziert wird. Genau dieser Sichtweise aber entzieht die Analyse der Wertform, die Marx in seiner Kritik der politischen Oekonomie als Grundform buergerlicher Vergesellschaftung dechiffriert, die Basis! Der von Marx antizipierte Vormarsch der Wertbeziehung bricht die Unabhaengigkeit der unmittelbaren Produzenten und degradiert die Arbeiter zu Anhaengseln des Maschinensystems. Aus dem stolzen unabhaengigen Produzenten wird ein abhaengiges Raedchen im kapitalistischen Getriebe, das sich nur noch als Bestandteil des variablen Kapitals, also in den Verwertungsprozess integriert, verhalten kann. Dem proletarischen Interesse wohnt unter diesen Bedingungen kein Jota revolutionaerer Potenz inne. Stefan Breuer argumentiert hier aehnlich wie Wolfgang Pohrt, ein anderer Vertreter der Enkelgeneration der Kritischen Theorie, in seiner "Theorie des Gebrauchswerts", und kommt auch zu einem analogen Schluss. Die kommunistische Revolution war, wenn ueberhaupt je, dann nur an der historischen Schnittstellt zwischen formeller und reeller Subsumtion denkmoeglich. Diese Chance wurde aber verpasst, und so schliesst sich mit der Herstellung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital das kapitalistische Universum zur negativen, nicht mehr aufhebbaren Totalitaet. Der Skandal Kapitalverhaeltnis verewigt sich durch seine Verallgemeinerung. Es wird unueberwindlich, indem es die Arbeiterklasse als integralen Bestandteil in sein Getriebe aufnimmt. Die Verselbstaendigung des Werts zum automatischen Subjekt der Gesellschaft wird in der Interpretation Breuers zum Garanten fuer die Stabilitaet der buergerlichen Form. Die Marxsche Revolutionstheorie, die Hoffnung auf ein Ende des Kapitalverhaeltnisses, gilt ihm nur mehr als Fremdkoerper, der mit der ganzen Stossrichtung der Kritik der politischen Oekonomie unvereinbar bleibt 6
.


2. Der januskoepfige Marx

Die Argumentation von Stefan Breuer trifft den traditionellen arbeitsontologisch orientierten Marxismus ins Herz. Die Hoffnung auf die revolutionaere Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft durch eine dem Kapital entgegengesetzte proletarische Wesenheit bricht sich tatsaechlich an der alles durchdringenden Kraft der Wertform. Hinter der vom Arbeiterbewegungsmarxismus verherrlichten alle Werte schaffenden Arbeit, verbirgt sich nichts weiter als die Logik des Kapitals unter anderem Gesichtspunkt 7
. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit bewegt sich innerhalb des gleichen wertfoermigen Zusammenhangs, und so affirmiert der Konkurrenzkampf beider Standpunkte nur das Grundverhaeltnis. Der arbeitsontologische Standpunkt ist ex definitione nicht dazu in der Lage, die buergerliche Wirklichkeit zu transzendieren. Die Kritik der politischen Oekonomie konsequent zu Ende gedacht schliesst die Vorstellung einer arbeiterstolzen kommunistischen Revolution aus. Genau unter diesen klassenkampffetischistischen Auspizien aber wurde die Marxsche Theorie von der Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft ausschliesslich geschichtstraechtig. Die faelschliche Identifizierung von Selbstaffirmation der Arbeiterklasse und Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft bestimmte nicht nur die sowjetische Hammer und Sichelvariante des Marxismus, sie wiederholte sich genauso in dessen sozialdemokratischer Version wie in all seinen haeretischen Spielformen. Bis heute hat der Marxismus als Gegenbild zur aufzuhebenden buergerlichen Gesellschaft nur die durch die reale Entwicklung laengst blamierte Chimaere einer Ontologie der Arbeit zu bieten.
Wenn die Marxsche Theorie vom schliesslichen Ende des Kapitalverhaeltnisses sich in dieser wohlbekannten Arbeiterbewegungsquintessenz erschoepfen wuerde, sie waere zu Recht der Gnade des Vergessens ueberantwortet. Die reale historischen Entwicklung haette dann in der Tat jene revolutionaere Emphase endgueltig erledigt, mit der die Marxsche Theorie einst antrat. Unter diesen Umstaenden muesste die Hoffnung auf den Sturz der buergerlichen Gesellschaft tatsaechlich zusammen mit der grossen historische Bewegung ein fuer allemal erloeschen, der sie ein Jahrhundert als ideologisches Vehikel diente. Der Widerspruch von Wertform und stofflichem Inhalt laesst sich in der Tat vom Standpunkt des unmittelbaren Produzenten keineswegs aufrollen 8
. Allein, auch die Marxsche Theorie von der Aufhebung des Kapitalverhaeltnisses ist mit der mittlerweile reichlich antiquierten Beschwoerung eines scheintranszendeten arbeitsontologischen Standpunkts bestenfalls zur Haelfe getroffen. Die Kritik der politischen Oekonomie, die Breuer und Konsorten auf ihrer eigenen pessimistisch gestimmten Seite waehnen, oeffnet aus ihrer eigenen Logik heraus einen Parallelzugang zu einer gaenzlich anders strukturierten Revolutionstheorie, die ohne die altbekannten arbeiterbewegten Herrlichkeiten auskommen kann, ja sie durch ihre Stossrichtung radikal negiert 9
.
Der doppelte Marx, den Stefan Breuer im Auge hat, existiert tatsaechlich. Die Trennlinie zwischen den disparaten Teilen innerhalb der Marxschen Theorie verlaeuft allerdings etwas anders, als sie Breuer verortet. Die revolutionstheoretische Perspektive ist nicht per se als ein blosses Abfallprodukt Marxscher Arbeitertuemelei und zwangslaeufig an arbeitsontologische Reminiszenzen gekoppelt. Auch die Marxsche Revolutionstheorie liegt zumindest in nuce doppelt vor. Die Illusion einer revolutionaeren Arbeiterklasse kann platzen, ohne dass damit Stabilitaet und ewiger Fruehling kapitalistischer Herrschaft bewiesen waeren. Neben dem von der Arbeiterbewegung reichlich plattgetretenen Theoretiker einer proletarischen Revolution verbirgt sich in den Tiefen der Kritik der politischen Oekonomie eine weitere Alternativversion vom Ende des Kapitals, die bis heute weder eingeloest geschweige denn falsifiziert ist. Waehrend Marx und Engels einerseits tatsaechlich, ganz dem landlaeufigen Arbeiterbewegungsjargon gemaess, die Ueberwindung des Kapitalverhaeltnisses von der Aktion des selbstbewussten Proletariats erwarteten, entwirft Marx im "Kapital" und in den "Grundrissen" gleichzeitig dazu ein anderes, in der Rezeptionsgeschichte vollkommen vergessenes Szenario vom Ende der buergerlichen Gesellschaft. In dieser, allerdings mehr chiffrenhaft angedeuteten denn ausgefuehrten Version bringt nicht die schwielige Proletenfaust das Kapital zur Strecke, die wertfoermige Vergesellschaftung scheitert statt dessen an ihrer eigenen immanenten Logik. Diese Vorstellung einer objektiven Schranke der buergerlichen Gesellschaft prognostiziert die Selbstzersetzung der Keimform der buergerlichen Gesellschaft, der Wert- und Warenform und zentriert sich logisch um das Obsoletwerden des unmittelbaren Produzenten. Wert- und Warenform verlieren ihre Grundlage und damit ihre Lebensfaehigkeit, "sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehoert hat, die grosse Quelle des (stofflichen! Anmerkung E.L.) Reichtums zu sein" 10
, weil die unmittelbare Produktionsarbeit die lebendige Grundlage des Werts bildet. In dieser, von der Kritik der politischen Oekonomie bestimmten Lesart, fallen der Untergang des Kapitals und das sukzessive Zuruecktreten des unmittelbaren Produzenten zusammen. Mit dieser Variante desavouiert Marx die gaengigen Arbeiterbewegungsraster vollkommen und stellt sie auf den Kopf. Waehrend fuer jeden Arbeiterbewegungsmarxismus die unmittelbaren Produktionsarbeiter ganz selbstverstaendlich den Kern der proletarischen Klassenmacht bilden und ihm daher folgerichtig als das Allerheiligste gelten, erscheint hier urploetzlich pikanterweise gerade der rapide Bedeutungsschwund der Kultfigur als conditio sine qua non kommunistischer Umwaelzung!
Es faellt schwer diese einander diametral entgegengesetzten Argumentationslinien zusammenzudenken. Marx gelang es nicht, den grundlegenden schreienden Widerspruch zwischen beiden Betrachtungsweisen zu einem kohaerenten Ganzen zusammenzufuegen. Statt dessen durchkreuzen sich in seinem Werk unvereinbare Theoriestraenge und der gigantische Torso der Marxschen Theorie bleibt doppeldeutig. In seinem Werk stehen zwei Optionen vom Untergang des Kapitalverhaeltnisses unvermittelt nebeneinander. Marx redet gleichermassen von der Expropriation der Expropriateure durch die selbstbewussten Arbeitermassen wie von der immanenten objektiven Schranke des Kapitals, ohne je mehr als eine provisorische Verknuepfung beider Gesichtspunkte herstellen zu koennen 11
. Der Bezug zwischen dem Schlusspunkt der Kritik der politischen Oekonomie, dem objektiven Krisenprozess, und dem soziologisch daherstolzierenden revolutionaeren Arbeitersubjekt bleibt im gesamten Werk ein blinder Fleck und entsprechend unklar.
Dieser wenig befriedigende Umstand ist sicher nicht den mangelnden analytischen Faehigkeiten von Marx geschuldet. Er hat seinen Grund in den realen historischen Umstaenden, die in die Marxsche Theoriebildung miteingingen. Marx antizipierte zwei grosse historische Prozesse. Er nahm zum einen die Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft gedanklich vorweg, eine Bewegung, die zu seinen Lebzeiten noch in den Kinderschuhen steckte. Er analysierte andererseits auf sehr hohem Abstraktionsniveau das objektive Ausbrennen und die schliessliche Aufloesung der buergerlichen Gesellschaft und ihrer Grundformen. Die crux, die uns Nachgeborenen den Bezug auf dieses zweite, heute virulent werdenden Moment seiner Theorie immens erschwert, liegt nun darin, dass er beide historische Prozesse nicht streng scheiden konnte, sondern sie als zusammengehoerigen Komplex denken musste. Fuer ihn und seine Anhaenger sind Emanzipation der Arbeiterklasse und Ende der buergerlichen Gesellschaft aneinander gekoppelt. Realiter fallen diese entscheidenden Einschnitte aber nicht nur historisch um einige Menschenalter auseinander, sondern auch logisch. Die Emanzipation der Arbeiter hat sich mittlerweile als Befreiung der Arbeiter zu gleichberechtigten Staatsbuergern und Warenbesitzern laengst vollzogen, das Ausbrennen der Wert- und Warenform und die ganze Brisanz, die in dieser Entwicklung steckt, zeichnet sich erst heute am historischen Horizont ab. Die Zerstoerung der buergerlichen Form ist nicht mit der Emanzipation der Arbeit, sondern mit der Befreiung von ihr identisch. Weit davon entfernt die Wertlogik ausser Kraft zu setzen, entpuppte sich die Emanzipation der Lohnarbeiter als ein Hauptkettenglied der Entfaltung der Wertvergesellschaftung. Deren reale, empirisch greifbare Selbstzerstoerung tritt dagegen erst mehr als hundert Jahre nach Marxens Tod in ihr akutes Stadium, und schliesst dabei ganz selbstverstaendlich die Zersetzung aller Arbeiterherrlichkeit mit ein!
Fuer Marx war die illusorische Identifizierung von Arbeiteremanzipation und kommunistischer Revolution wohl unvermeidlich. Auf der Suche nach Anknuepfungspunkten fuer seine revolutionaere transbuergerliche Theorie im real sich vollziehenden historischen Prozess, gab es in seiner Zeit nur einen denkbaren Bezugspunkt, und das war nun einmal die Arbeiterbewegung. Die kommunistische Revolution konnte nur ein Gewaechs dieser sich anbahnenden Emanzipationsbewegung sein, oder die kommunistische Perspektive war auf absehbare Zeit gegenstandslos, ein unpraktikables Hirngespinst. Dementsprechend haelt Marx die These einer objektiven,dem Kapital immanenten Schranke nur konsequent durch, solange er sich auf hohem Abstraktionsniveau bewegt. Sobald er die Bruecke zur empirischen Wirklichkeit seiner Epoche zu schlagen versucht, naehert er sich unweigerlich dem gewohnten Arbeitersoziologismus 12
. Statt fuer seine Gegenwart zum Apologeten der buergerlichen Produktionsweise zu konvertieren und ihr freiwillig eine unabsehbar hohe Lebenserwartung zu attestieren, rettete Marx die revolutionaere Intention seiner Theorie, indem er seine Vision einer nicht mehr warenfoermigen Reproduktion in die akut sich herausbildende Arbeiterbewegung hineinprojizierte. Mangels objektiver empirischer Anknuepfungspunkte fuer das Obsoletwerden der Wertbeziehung zu seinen Lebzeiten, formulierte Marx die theoretisch anvisierte Abschaffung von Wert und Ware ersatzweise als subjektive Aufgabe und schrieb sie der allmaehlich aufbluehenden Arbeiterbewegung ins Stammbuch.
Diese Lebensluege zentrierte sich im wesentlichen um ein Missverstaendnis. Marx hielt den Ausschluss der Besitzer der Ware Arbeitskraft von den Segnungen der Waren-Demokratie fuer ein Strukturmerkmal jeder kapitalistischen Gesellschaft. Die Emanzipation der Arbeiter kann fuer Marx nur deshalb mit der Aufhebung der Geld- und Warenbeziehung zusammenfallen, weil es sich die Arbeitermassen, anders als die Bourgeoisie, in den verdinglichten Verhaeltnissen nicht bequem machen koennen. Er geht davon aus, dass den Eigentuemern der Ware Arbeitskraft der Weg zur vollwertigen Mitgliedschaft innerhalb der Gemeinschaft freier und gleicher Warenbesitzer, trotz aller Anstrengungen auf immer und ewig verschlossen bleiben muss. In dieser fuer die Marxsche Interpretation paradigmatischen Voraussetzung verschraenken sich ganz eigentuemlich das Rueckstaendige an den handgreiflichen, empirischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der Fundamentalkritik der buergerlichen Gesellschaft. Marx muss gerade die spezifisch unterstaendischen Merkmale, die sich in der proletarischen Existenzweise noch einmal reproduzieren, hypostasieren und in die Zukunft verlaengern, um der Arbeiterschaft einen revolutionaeren transbuergerlichen Charakter im Sinne seiner Fetischismusanalyse zuordnen zu koennen. Damit verfehlt aber der Marxsche Antizipationsversuch den realen historischen Trend. Die "soziale Frage" des 19.Jahrhunderts war der Unreife und Unentwickeltheit der damaligen Verhaeltnisse geschuldet. Beim klassischen Arbeiterelend handelte es sich bekanntermassen nur um ein Uebergangsphaenomen. Dieses Phaenomen war innerhalb der kapitalistischen Logik ueberwindbar, und es wurde ueberwunden. Die grausamen Friktionen, die die Kindertage des Kapitals begleiteten, verschwanden mit der Entwicklung der Wertvergesellschaftung und die Arbeiterklasse entfaltete sich durch vielerlei Kaempfe und Brueche hindurch zu dem was sie ihrem Begriff nach immer schon gewesen war. Sie metamorphosierte vom unterstaendischen "Vierten Stand" zu einer spezifischen Kategorie freier und gleicher Warenbesitzer.
Diese in der Logik seines Kapitalbegriffs enthaltenen Entwicklungstrends bekam Marx nicht ins Visier. Gleichermassen von der himmelschreienden empirischen Misere wie von der himmelstuermenden Hoffnung auf eine operationalisierbare revolutionaere Perspektive geblendet, galten ihm die Arbeiter per se als die lebendige Negation der buergerlichen Gesellschaft. Jeder Akt der Selbstbehauptung und Selbstaffirmation der Arbeiterschaft kann in diesem Verstaendnis praktisch nur in einen Anschlag auf ihr elendes Arbeiterdasein muenden. Die Differenz zwischen dem Kampf gegen das Elend der Arbeiterexistenz und dem Kampf gegen die elende Arbeiterexistenz selber, fielen auf diese Weise unter den Tisch, und so kamen die naiven Arbeitermassen zu der besonderen Ehre, bei Marx als die privilegierten Traeger einer kommunistischen Umwaelzung figurieren zu duerfen. Diese von der Geschichte gruendlich falsifizierte Sichtweise hat Marx strategisch verdichtet und in die beliebte Parole "Selbstaufhebung des Proletariats" uebersetzt. Diese Zauberformel zwingt theoretisch zusammen, was nicht zusammengehoert, und ermoeglicht es Marx in seinen Schriften, am Gedanken der Aufhebung des unmittelbaren Produzenten durchgehend festzuhalten und diesem Ziel dennoch die gegen jedes selbstaffirmative Arbeiterbewusstsein gerichtete polemische Spitze abzubrechen 13
.
Diese Unzulaenglichkeit ist Marx selber allerdings kaum zum Vorwurf zu machen. Der Versuch, die Kritik der buergerlichen Form auf einem Vergesellschaftungsniveau zu konkretisieren, auf dem statt ihrer Beseitigung erst deren Herstellung auf dem geschichtlichen Programm steht, fuehrte zwangslaeufig zu eigenartigen Verkehrungen. Was Marx hoffnungsvoll bereits als Anzeichen fuer die beginnende Agonie der buergerlichen Gesellschaft deutet, waren realiter nun einmal lediglich deren Geburtswehen, und dieser Umstand hinterlaesst auch in seiner Theorie zwangslaeufig Spuren.
Wenn sich im Marxschen Werk die radikale Kritik der buergerlichen Form und der Kampf fuer sie, via Arbeiterbewegung, zu einem vermengen, so ist es eben die Aufgabe einer zeitgemaessen revolutionaeren Theorie das Amalgamierte auseinanderzudividieren, statt in Ehrfurcht unser Brevier aus den Schriften der Klassiker wiederzukaeuen. Wollen wir an deren revolutionaerer Intention festhalten, bleibt gar kein anderer Weg. Die falsche Einheit von disparaten Gesichtspunkten macht die Marxsche Theorie in ihrer ueberlieferten Fassung fuer die Beduerfnisse unserer Epoche unbrauchbar. Im Marxschen Werk ueberlagert die Zukunftsmusik von ehedem, die Emanzipation der Lohnarbeit, die in der Fetischkritik intonierte Melodie. In den Interpretationsmustern des Marxismus wird sie vollends neutralisiert und verkommt zu dunkel-unklaren Sphaerenklaengen. Gerade diese scheinbar mystischen Toene sind es aber, die allein akuten Zuendstoff fuer unsere scheinbar undurchdringliche Wirklichkeit liefern und nicht nur die Herstellung eines durch und durch verobjektivierten Verhaeltnisses erfassen koennen, sondern auch in der Lage sind, die in diesem Versachlichungsprozess enthaltenen Bruchlinien aufzuspueren und nachzuzeichnen. Erst die wertkritische Zuspitzung macht die Marxsche Theorie aus einem alten Hut zum hochbrisanten Sprengstoff. Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel muessen wir die alten, laengst zu Gebetsmuehlen heruntergekommenen Verknuepfungen von Revolution und Arbeiterstandpunktsseligkeit rigoros kappen und statt dessen die Kritik des Warenfetischs bis zu ihren krisen- und revolutionstheoretischen Implikationen weitertreiben und konkretisieren. Es kann nur dann gelingen, eine durchschlagende Revolutionstheorie zu reformulieren, wenn wir aus der konsequent durchgehaltenen Kritik der politischen Oekonomie heraus den Zugang zum Problem der Ueberwindung der buergerlichen Gesellschaft von neuem freischaufeln.
Die positive Reformulierung einer Revolutionstheorie auf der Hoehe unserer Zeit und des in der Kritik der politischen Oekonomie gesetzten Reflexionsniveaus setzt die theoretische Demontage der tradierten revolutionstheoretischen Raster voraus. Die Bilder, die sich der ueberlieferte Marxismus vom Untergang des Kapitals machte, ueberlagern wie dicke Tuenche die innere Logik und Struktur der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie und verstellen hermetisch den Zugang zu deren revolutionstheoretischer Aufloesung. Die Umrisse einer zeitgemaessen Revolutionstheorie werden deshalb erst sichtbar, sobald wir ihre Vorgaenger kritisch aufgearbeitet und uns die tradierten Denkgewohnheiten in Sachen revolutionaeres Subjekt gruendlich vom Hals geschafft haben.

3. Zum logischen Status von Krisen- und Revolutionstheorie

Eins sollten wir bei der Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie nie vergessen. Wenn Marx die buergerliche Produktionsweise untersucht, so handelt es sich dabei keineswegs um eine alternative Wirtschaftstheorie, der es um die positive Darstellung der Funktionsmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise ginge, sondern um die Kritik der politischen Oekonomie. Der Untertitel des Marxschen Hauptwerks bezeichnet das gesamte Untersuchungsprogramm. Mit der Metamorphose der Marxschen Theorie zum Marxismus ging diese fundamentalkritische Stossrichtung allerdings voellig verloren. Stellenwert und Bedeutung der negativen Selbstcharakterisierung gerieten in der marxistischen Tradition in Vergessenheit oder ueberlebten lediglich als entleerte Phrase. Soweit die Marxisten an der kritischen Intention der Kritik der politischen Oekonomie festhielten, nahmen sie diese mit Vorliebe auf ihre ideologiekritische Seite zurueck. Diese Reduktion verfehlt allerdings die Marxsche Intention gruendlich. Denn wenn Marx gerade die negatorische Stossrichtung seines Ansatzes zum Markenzeichen erhebt, so geht es ihm dabei nicht allein um die radikale Enthuellung der Schwaechen konkurrierender theoretischer Ansaetze. Marx begnuegt sich keineswegs damit, die zu seinen Lebzeiten vorherrschenden ideologischen und wissenschaftlichen Vorstellungen ueber Oekonomie anzugreifen; seine Kritik zielt gleichzeitig, und das ist das Entscheidende, auf den zu untersuchenden Gegenstand selber. Marx nimmt das System der buergerlichen Oekonomie nicht als krudes vorausgesetztes Faktum, seine Darstellung ist immer schon auf innere Widerspruechlichkeit und schliessliche Aufloesung des "nationaloekonomischen Zustands" hin orientiert. Die Marxsche Kapitalismusanalyse hat es sich von der ersten bis zur letzten Zeile zur ausschliesslichen Aufgabe gemacht, jene Paradoxien herauszuarbeiten, die die buergerliche Vergesellschaftungsform als unhaltbares, nur transitorisches Stadium menschlicher Entwicklung kennzeichnen.
Dieser negative Charakter der Analyse verleiht der Krisentheorie ihren besonderen Stellenwert im Marxschen Werk. Wenn es die Krise ist, die die Wahrheit der kapitalistischen Produktionsweise enthuellt, kann die Analyse der wirklichen Weltmarktkrisen nicht wie in positiven Wirtschaftstheorien als Appendix an der allgemeinen Theorie des Kapitalverhaeltnisses kleben, sie wird selber zum uebergreifenden und zusammenfassenden Moment. Marx hat die integrative Funktion der Krisentheorie in seinen methodischen Ueberlegungen immer betont. So schreibt er etwa flogendes in den "Theorien ueber den Mehrwert", um die Marschrichtung seiner Kritik der politischen Oekonomie anzugeben:
"Und dies ist bei der Betrachtung der buergerlichen Oekonomie das Wichtige. Die Weltmarktkrisen muessen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprueche der buergerlichen Oekonomie gefasst werden. Die einzelnen Momente, die sich also in diesen Krisen zusammenfassen, muessen also in jeder Sphaere der buergerlichen Oekonomie hervortreten und entwickelt werden, und je weiter wir in ihr vordringen, muessen einerseits neue Bestimmungen dieses Widerstreits entwickelt, andererseits die abstrakteren Formen desselben als wiederkehrend und enthalten in den konkreteren nachgewiesen werden"14
.
Die Krisentheorie wirft ihren Schatten auf das gesamte System der Kritik der politischen Oekonomie und gibt dem Bau seine Faerbung. Die Beschaeftigung mit den Weltmarktkonvulsionen, die das Finale furioso im urspruenglichen Aufbauplan der Marxschen Oekonomiekritik bilden sollte, bringt kein neues apartes Thema aufs Tablett. Sie buendelt nur noch einmal konkretisiert und im Brennspiegel all die Bestimmungen, die Marx auf anderen abstrakteren Ebenen seiner theoretischen Aufarbeitung bereits vorab entwickelt hat 15
. Wenn Marx auf den ersten Seiten des "Kapitals" die einzelne Ware analysiert, dabei den in der nackten Existenz der Ware gesetzten Zerfall der Einheit von Produktion und Konsumtion herausarbeitet, der in seinem Gefolge die Verdopplung von Ware und Geld hervortreibt, so hat er damit auch schon die abstrakteste Form der Krise herausgeschaelt.
"Indem die Austauschbarkeit der Ware ausser ihr als Geld existiert, ist sie etwas von ihr Verschiedenes, ihr Fremdes geworden; mit dem sie erst gleichgesetzt werden muss, dem sie also d'abord ungleich ist; waehrend die Gleichsetzung selbst von aeussren Bedingungen abhaengig wird, also zufaellig" 16
.
"Insofern Kauf und Verkauf, die beiden wesentlichen Momente der Zirkulation, gleichgueltig gegeneinander sind, in Raum und Zeit getrennt, brauchen sie keineswegs zusammenzufallen. Ihre Gleichgueltigkeit kann zur Befestigung und scheinbaren Selbstaendigkeit des einen gegen das andere fortgehn. Insofern sie aber beide wesentliche Momente Eines Ganzen bilden, muss ein Moment eintreten, wo die selbstaendige Gestalt gewaltsam gebrochen und die innre Einheit aeusserlich durch eine gewaltsame Explosion hergestellt wird. So liegt schon in der Bestimmung des Geldes als Mittler, in dem Auseinanderfallen des Austauschs in zwei Akte, der Keim der Krisen, wenigstens ihre Moeglichkeit.."17

Wir sehen, die Beschaeftigung mit der Krise kapitalistischer Vergesellschaftung findet sich nicht erst fragmentarisch im 3.Band des "Kapitals", sie beginnt in diesem, wie in allen anderen zentralen Werken, in denen Marx seine Kritik der politischen Oekonomie entwickelt, mit der ersten Zeile. Die Durchdringung der "metaphysischen Mucken" der Warenform ist keine l'art pour l'art-Veranstaltung, sie beinhaltet bereits die abstrakteste Form der Krisentheorie. Der architektonische Grundriss, in den sich der gigantische Torso des Marxschen Werkes einfuegt, ist von vornherein auf den krisentheoretischen Schlussstein hin ausgerichtet.
Den in der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie konzipierten kohaerenten Zusammenhang loest die Verharmlosung des "Kapital" zu einer positiven marxistischen Wirtschaftswissenschaft rigoros auf. In den Haenden der Epigonen verliert die Krisenproblematik ihre fokussierende Funktion und rueckt aus dem Zentrum der theoretischen Anstrengung in den Anhang. Der kapitalistische Normalzustand erscheint, zumal was die Grundformen dieser Gesellschaftsformation angeht, als die eine Sache, die krisenhafte Stoerung des reibungslosen Ablaufs der Kapitalakkumulation als ein ganz anderer theoretischer Gegenstand, den es gesondert abzuhandeln gilt. Die Marxsche Kritik der politischen Oekonomie diffundiert zu einem Buendel wirtschaftswissenschaftlicher Theoreme, und die debattierenden marxistischen Oekonomen hantieren mit diesem Instrumentarium, indem sie mehr oder minder virtuos einzelne auseinanderdriftende Bruchstuecke gegeneinander geltend machen. Die marxistische oekonomische Diskussion gewinnt ihre Einheit nur mehr unter ideologischen Gesichtspunkten. Ghettoisiert und vom buergerlichen Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen, bleiben die marxistischen Kontrahenten aufeinander verwiesen. Der innertheoretische Zusammenhang duennt dagegen aus, und die Verknuepfungen zwischen den abgetrennten Spielwiesen koennen zusehends lediglich willkuerlich erzwungen werden. Dieser Umstand schlaegt sich in der klassischen marxistischen Krisendebatte unuebersehbar nieder. Ueberakkumulations-, Unterkonsumtions- und Disproportionalitaetstheoretiker reden vornehmlich konsequent aneinander vorbei. Zusammenhalt und Identitaet marxistischer Oekonomie liegt nicht so sehr im Diskussionsprozess begruendet, sie ruht vielmehr in dem, was als vermeintlich selbstverstaendliche Vorgabe nicht mehr thematisiert wird, in den gemeinsamen Vorurteilen. Der Hauptteil des Marxschen Werks, vor allem der 1.Band, bleibt so gut wie unumstritten und damit unbeleuchtet. Die durchgaengige positivistische Verbiegung der Marxschen Werttheorie zu einer Definitionsuebung 18
enthebt die marxistischen Oekonomen vor allem der Muehe, sich auf die allgemeinsten Bestimmungen von Wert- und Warenform analytisch einzulassen. Die konkurrierenden klassischen marxistischen Krisentheoriestraenge umspannen nicht das gesamte Feld der Kritik der politischen Oekonomie, sie machen sich jeweils an bestimmten Teilproblemen im zweiten und dritten Band des Marxschen "Kapital" fest, und blasen sie ersatzweise zum Nonplusultra auf, um sich auf diesem beschraenkten Standpunkt einzuigeln. Mit dem Verlust ihrer fetischismuskritischen Spitze buesst die Kritik der politischen Oekonomie gleichzeitig die Faehigkeit ein, die Totalitaet der buergerlichen Verkehrsform zu fassen und faellt einem unaufhaltsamen Erosionsprozess anheim.
Der negativ-kritische Grundzug des Marxschen Ansatzes bestimmt aber nicht nur die Binnenbeziehungen aller Teilmomente innerhalb des Bezugssystems Kritik der politischen Oekonomie und fuegt sie, um mit Marx zu sprechen, zu einem "artistischen Ganzen" zusammen, er wirkt sich auch auf den Bau des Marxschen Gesamtwerks aus. An der kritischen Stossrichtung haengt nicht nur die Kohaerenz der Kritik der politischen Oekonomie als solcher, erst die negatorische Themamelodie gruppiert auch die Marxsche Gesamttheorie um dieses Zentrum. Sobald der Wert zur positiv handhabbaren Groesse verkehrt wird, verwandelt er sich im gleichen Atemzug auch zu einer rein inneroekonomischen Kategorie. Der von Marx als Keimzelle der gesamten buergerlichen Gesellschaft apostrophierte "Wert" buesst mit der rigorosen Beschraenkung des Gueltigkeitsbereiches seine Relevanz zur Erklaerung ausseroekonomischer Phaenomene ein. So wird fuer die Behandlung der politischen und ideologischen Sphaere die Entwicklung eigenstaendiger Kategoriensysteme unerlaesslich, die entkoppelt und unabhaengig vom Wert eine eigene Logik entfalten. Sobald Theorie ohne wertkritische Spitze operiert, wiederholt sie auf ihrem eigenen Boden blind und bewusstlos die fuer die buergerliche Gesellschaft charakteristische Sphaerentrennung. Mit dem Abschied von der Negation der Grundformen der buergerlichen Gesellschaft geht der Kapitalismusanalyse jede Tiefendimension verloren und die Erfassung der inneren Gliederung der Wirklichkeit, in deren Rahmen alle Oberflaechenphaenomene dieser Gesellschaft sich aufeinander beziehen, weicht einem in Spezialdisziplinen aufgefaecherten Marxismus. Die Verwandlung der Kritik der politischen Oekonomie in marxistische Oekonomie zerlegt das Ganze der Wirklichkeit und schafft eine Vielzahl disparater Theoriefelder, die nach jeweils eigenen Gesetzen zu funktionieren scheinen und nur durch aeusserliche "Wechselwirkungen" aufeinander einzuwirken vermoegen. Nichts koennte der vielbeschworenen Dialektik mehr Hohn sprechen als dieser sich weise gebende, hoelzerne Mechanizismus. Wo der Marxismus sich als positive Theorie der buergerlichen Gesellschaft kapriziert, reproduziert er in kruder und unausgegorener Weise auf seinem eigenen Boden den buergerlichen Wissenschaftspluralismus und spreizt sich ins Unendliche auf. Marxistische Soziologie, marxistische Staatstheorie, marxistische Religionstheorie, marxistische Oekonomie, marxistische Anthropologie und marxistische Krisentheorie stehen einander gegenueber und ihre Einheit rutscht aus der analytischen Stringenz ins Attribut und damit ins Ideologische. Die historische Marxrezeption kann im wesentlichen als frappierende Bestaetigung dieser Erosionslogik gelten. Konfrontiert mit unweigerlich auseinanderstrebenden Theoriemomenten mussten Legionen von Epigonen bis heute auf einen mechanischen Basis-Ueberbau-Schematismus zurueckgreifen um die auseinanderfallenden Zweige marxistischen Denkens noch irgendwie unter das Primat einer positiv gewendeten Oekonomie zu zwingen. Damit verfehlen sie aber das reale innere Band der buergerlichen Gesellschaft vollkommen und fuegen nur aeusserlich und mit der Brechstange disparate Theoriesegmente zusammen.
Das abschreckende Beispiel verdeutlicht die Quintessenz unserer Ueberlegungen. Der innere theoretische Zusammenhang, der Griff nach der Totalitaet des gesellschaftlichen Getriebes, haengt notwendig am negativ-kritischen Zugang und ist auf Gedeih und Verderb an ihn gebunden. Die Keimzelle dieser Verkehrsform, Wert und Ware, um deren Analyse sich die Kritik der politischen Oekonomie und die Marxsche Untersuchung der buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt rankt, wird nur vom Standpunkt ihrer Negation aus sichtbar. Die Darstellung bleibt nur solange stringent, folgt einem roten Faden und zielt aufs Ganze, solange Wert und Ware als zu erklaerende Grundraetsel zum Ausgangspunkt genommen und nicht als selbstverstaendliche positive Tatsache unhinterfragt vorausgesetzt werden.
Wenn wir diese negatorische Stossrichtung in unserer Herangehensweise konsequent durchhalten, und das Kapital statt als positive Entitaet ernsthaft als seinen eigenen lebendigen Widerspruch behandeln, so hat dies immense Implikationen fuer den Stellenwert der Marxschen Krisentheorie und ihre Stellung zu anderen Momenten der Marxschen Theorie. Unter wertkritischem Blickwinkel streift Krisentheorie ihren subalternen Rang ab und wird zum Einheit stiftenden Scharnier des ganzen Marxschen Werkes. Die krisentheoretische Quintessenz der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Oekonomie entpuppt sich nicht nur als deren Kulminations-, sondern gleichzeitig auch als ihr Umschlagspunkt zu anderen scheinbar fremden Theoriesphaeren. Wo die Analyse der kapitalistischen Bewegungsgesetze explizit in die Darstellung der realen Zersetzung des kapitalistischen Mechanismus einmuendet, muss sie sich zur Theorie der Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft zuspitzen. Wenn das Kapital nicht an einem fremden Wesen, sondern letztlich an sich selber scheitert, so kann Krisentheorie nicht selbstbescheiden bei sich zu Hause bleiben, sie zieht aus ihrer eigenen Logik heraus die Umrisse einer spezifischen Revolutionstheorie nach sich. Die Vorstellung einer objektiven immanenten Schranke impliziert, zu Ende gedacht, die grundlegende Einheit von Revolutions- und Krisentheorie. Dabei ist die Krisentheorie der umfassendere grundlegende Gesichtspunkt und die Revolutionstheorie entspringt ihr als Spezifikation. Wer den Gedanken der objektiven immanenten Schranke ernst nimmt und weitertreibt, muss gerade bei allen revolutionstheoretischen Ueberlegungen von dieser Grundannahme ausgehen, auf sie rekurrieren und Revolutionstheorie als Ausfluss der Krisenanalyse begreifen 19
. So etwas wie eine immanente Schranke vorausgesetzt, kann die Revolutionstheorie ihrem ganzen Status nach nichts anderes als die Konkretion und Bewaehrung dieser Grundthese sein, waehrend die Krisenanalyse nicht nur in sie eingeht, sondern ihr auch als logisches prius immer schon vorausgesetzt ist. Am Ende einer Krisentheorie, die sich nicht damit begnuegt, oekonomisches Spezialfach zu sein und einen allgemeinen, das ganze System der Kritik der politischen Oekonomie umgreifenden Anspruch erhebt, steht der Uebergang zur Theorie der kommunistischen Revolution, die die krisentheoretische Faerbung nicht abwirft, sondern fortschreibt und konkretisiert.


4. Die Arbeiterklasse revolutionaeres Subjekt a priori

In der traditionellen Marxrezeption findet sich allerdings, wie auch nicht anders zu erwarten, von dieser engen Verzahnung beider Theoriemomente nicht die geringste Spur. Im Gegenteil, Krisenanalyse und Revolutionstheorie scheinen hier disparaten theoretischen Sphaeren zugeordnet, die wenig bis nichts miteinander gemein haben. Eine Affinitaet zur Organisationswissenschaft macht sich auf Schritt und Tritt bemerkbar, sobald sich der traditionelle Marxismus revolutionstheoretischen Ueberlegungen zuwendet, die Querverbindungen zur Krisentheorie dagegen verlieren sich im Uebergang von der Marxschen Theorie zum Marxismus so gut wie vollstaendig. Krisentheorie verkommt zu einer wenig praktischen und entsprechend subalternen Uebung fuer Oekonomiespezialisten. Im Richtungsstreit der alten Arbeiterbewegung spielt die oekonomische Debatte insgesamt nur die Rolle eines mehr oder minder vergessenen Nebenkriegsschauplatzes, und ihre krisentheoretische Seite scheint erst recht jenseits von Gut und Boese im Wolkenkuckucksheim angesiedelt.
Waehrend Marx mit der These einer immanenten objektiven Schranke, die dem Kapitalverhaeltnis zu guter Letzt aus dessen eigener Logik heraus ein Ende setzt, kryptisch die grundlegende Identitaet von Krise und Revolution proklamiert, verliert sich bei den Nachfolgern der damit zwangslaeufig intendierte umgreifende Stellenwert der Krisenanalyse restlos. Die himmelschreiende Diskrepanz zwischen der Marxschen Konzeption einer immanenten objektiven Schranke und der marxistischen Vorstellungwelt und ihren Phantasien zum Uebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, ist innerhalb der marxistischen Diskussion nie wirklich aufgebrochen und auch von keinem Aussenseiter ernsthaft thematisiert worden. Keiner der Protagonisten stellte sich in den theoretischen Diadochenkaempfen konsequent auf den Standpunkt des objektiven Endes des Kapitalverhaeltnisses, und die Epigonen erlaubten einander, sich mit groesster Leichtigkeit allzeit ueber eventuelle Lippenbekenntnisse hierzu hinwegzusetzen. Dieses Verdikt trifft selbst noch die wenigen expliziten und in hoechsten Masse angefeindeten Zusammenbruchstheoretiker in der marxistischen Debatte. Rosa Luxemburg, Henryk Grossmann und dessen Erbverwalter Paul Mattick nahmen sich zwar lobenswerter Weise vor, den Marxschen Grundgedanken einer dem Kapital immanenten Schranke zu explizieren, in ihren Konsequenzen landeten sie aber gleich ihren "harmonistischen" Konkurrenten bei der selbstbewussten aprioristischen Arbeitersubjektivitaet, die eine schlechte Welt zu richten haette. Weil sie bei der Erstellung ihrer Zusammenbruchstheorien die wirkliche absolute Schranke des Kapitals, die allein in der Selbstzerstoerung der grundlegenden Gestalt kapitalistischer Reproduktion, der Waren- und Wertform liegen kann, nicht in den Blick bekommen und sie statt dessen mit sekundaeren, rein binnenoekonomischen Fragestellungen (Realisierungsproblem, Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate) kurzschliessen, muessen sie, sobald sie die reale Aufloesung des Kapitalverhaeltnisses skizzieren wollen, zur Beschwoerung der Arbeiterklasse als revolutionaerem Subjekt a priori springen. Jeder Krisenobjektivismus, der sich auf abgeleitete Ebenen im Innenleben einer positiven marxistischen Oekonomie kapriziert, schlaegt notwendig in Subjektivismus um, sobald er sein eingesponnenes enges Terrain verlaesst, sich das theoretische Interesse dem Akt der Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft zuwendet. Weder der von Rosa Luxemburg prognostizierte Tod des Kapitals am Aussterben ausserkapitalistischer Milieus, noch die mathematischen Uebungen, mit denen Henryk Grossmann das Gesetz vom tendenziellen Fall des Profitrate breittritt, koennen per se irgendeinen Hinweis auf die moegliche Aufloesung der Misere zur sozialistischen Gesellschaft hin liefern. Sie sind ausserstande, die Grundlage fuer die Konstituierung des revolutionaeren Subjekts anzugeben. Krise und Untergang der buergerlichen Gesellschaft und die Herausbildung einer revolutionaeren Gegenbewegung, die diesen Zustand ueberwinden kann, stehen einander innerhalb dieses theoretischen Horizonts als aeusserliche und gleichgueltige Faktoren gegenueber. Zwischen ihnen besteht kein innerer Zusammenhang. Die tausendfach beschworene Alternative Sozialismus oder Barbarei droht jederzeit sich zur Barbarei hin aufzuloesen, denn nichts garantiert, dass die Herausbildung einer selbstbewussten revolutionaeren Arbeiterklasse, die das drohende Geschick allein wenden kann, mit der Durchkapitalisierung aller Laender dieser Erde oder dem Verfall der allgemeinen Profitrate zeitlich korrelieren muss. An diesem Punkt oeffnet der krisentheoretische Determinismus, der fuer gewoehnlich mit den Namen Luxemburg und Grossmann in Verbindung gebracht wird, den Spielraum fuer sein Pendant. Beide oekonomische Theoreme erfordern daher ihre Ergaenzung durch andersgeartete, politisch-soziologisch strukturierte Theoreme 20
und enden in revolutionaerem Voluntarismus. Die marxistischen Zusammenbruchstheoretiker koennen sich dieser, dem marxistischen Denken inhaerenten Stroemung nicht entziehen, ihre Gegenspieler ueberlassen sich ihr von vornherein und treiben mit ihr wie tote Fische. In der Sache hat sich der gesamte Marxismus von der Vorstellung einer dem Kapital immanenten objektiven Schranke verabschiedet. In den seltensten Faellen (etwa bei Bernstein) geht diese Abkehr allerdings mit einer expliziten Kritik dieses Grundaxioms der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie einher. Fuer gewoehnlich fuehlten sich die Marxisten mit den Worten des grossen Meisters im Einklang 21
. Die Wortgetreuen beteten rund hundert Jahre lang bewusstlos herunter, dass "die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion..das Kapital selbst" 22
sei, aber ohne dass deswegen die Implikationen dieser Aussage ins Blickfeld geraten waeren. Ebenso buchstabentreu wie pflichtbewusst leierten die marxistischen Theoretiker ihr Bekenntnis zu diesem Grundaxiom der Marxschen Theorie herunter, um es de facto bei allen analytischen Bemuehungen zu ignorieren. Der gewohnheitsmaessige Kotau vor den Worten des grossen Meisters fuehrte, wann immer er sich theoretisch bewaehren wollte, nur zu blamablen Resultaten. Mit all den zurechtgezimmerten Bezuegen und Deutungsmustern, mit denen marxistische Theoretiker in den letzten hundert Jahren zu erklaeren versucht haben, warum Marx davon ausgeht, dass das Kapital aus sich heraus ueber sich hinaustreibt und sich schliesslich selber in die Luft sprengt, blieben nicht nur immer theoretisch aeusserst duenn; schlimmer noch: Wo immer der traditionelle Marxismus den Marxschen Gedanken von der absoluten Schranke des Kapitals einzuloesen meint, verkehrt er den bei Marx anvisierten Zusammenhang in sein genaues Gegenteil und landet in krudem Subjektivismus. Was auch immer den Gedanken einer immanenten objektiven Schranke erlaeutern soll, war realiter nur dazu geeignet ihn zu dementieren.
Es faellt nicht sonderlich schwer zu erklaeren, warum keine der zahlreichen Facetten marxistischer Theorie in der Lage war, den Gedanken einer objektiven Schranke duchzuhalten. Der traditionelle Marxismus war in all seinen Spielformen wesentlich Arbeiterbewegungsmarxismus. Das gesamte marxistische Denken musste sich durch das Nadeloehr apologetischer Ueberhoehung des Arbeiterinteresses hindurchpressen. Die Arbeiterklasse galt dem triumphierenden Marxismus uneingeschraenkt als Traeger der besseren sozialistischen Zukunft. Diese Verherrlichung der Arbeiterklasse hatte aber ihren Preis. Die Marxisten konnten kommunistische Bewegung und Arbeiteremanzipation nur in eins setzen und die geliebte Arbeiterklasse mit den hoeheren Weihen eines revolutionaeren Subjekts ausstatten, indem sie sie zu einer jenseits der buergerlichen Wirklichkeit beheimateten Wesenheit verklaerten. Das Proletariat stand in der landlaeufigen marxistischen Lesart fuer den ewigen Stoffwechsel von Mensch und Natur, fuer die reine Gebrauchswertseite einer verkollektivierten Produktion. Es schien damit in seiner Kernsubstanz den Irrungen und Wirrungen profitorientierter Privatproduktion enthoben. In den Theoremen der alten Arbeiterbewegung verwandelt sich die Arbeiterklasse unweigerlich in eine im Prinzip immer schon systemtranszendente Wesenheit, die der buergerlichen Form nur aeusserlich unterworfen ist 23
. Die marxistischen Theoretiker hypostasierten das Proletariat zum ontischen Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals. Arbeiterklasse und Kapital erscheinen in den traditionell-marxistischen Denkmustern nicht als die Pole ein und desselben Verhaeltnisses, sondern als Verkoerperungen entgegengesetzter Prinzipien. Kapital und Arbeit konstituieren nicht die gleiche Wirklichkeit, sondern verschiedene, die sich im Grunde wechselseitig ausschliessen.
Diese Grundkonstellation bestimmt natuerlich nachhaltig auch die Denkschablonen, die sich der Marxismus vom Ende des Kapitalverhaeltnisses zurechtschneidert. Die revolutionaere Perspektive steht und faellt mit der proletarischen Unschuld. Der revolutionaere Beruf des Proletariats entsprang in dieser Sichtweise nicht seiner Existenz als Moment der buergerlichen Gesellschaft, es kam zu dieser Ehre, weil es im Grunde seiner Seele ausserhalb des buergerlichen Verblendungszusammenhangs im Reich kraftstrotzender Eigentlichkeit angesiedelt schien. Dementsprechend wird in diesem Interpretationsmuster das Kapital nicht sich selber zum Schicksal, sein Los trifft es gewaltsam von aussen. Es tritt ihm als ebenso aprioristisches wie feindliches Prinzip in der proletarischen Aktion entgegen. Das Kapital faellt diesem sowohl simplen als auch stereotypen Gedankengang zufolge dem Zugriff einer artfremden Arbeiter-Subjektivitaet zum Opfer. Gerade das vermeintlich vom Kapital grundverschiedene Wesen der arbeitenden Klasse figuriert als alleiniger Garant und conditio sine qua non der Beseitigung der buergerlichen Gesellschaftsformation.
In dieser Aporie verhedderten sich unweigerlich alle Vorstellungen, die der traditionelle Marxismus von der Aufloesung der kapitalistischen Produktionsweise im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat 24
. Im gesamten marxistischen Denken haengt die Hoffnung auf die nur transitorische Rolle des Kapitalismus in der Menschheitsgeschichte an dieser immer unterstellten Zwei-Welten Theorie 25
. Zum Subjekt revolutionaerer Umwaelzung wird sie gerade als die Inkarnation des ganz Anderen, das dem Kapital und seiner inhaerenten Logik existentiell entgegengesetzt und nicht von seiner Welt sein soll. Wo immer marxistisches Denken gezwungen ist, die Arbeiterklasse als Moment der buergerlichen Gesellschaft anzuerkennen, muss es an der Revolution verzweifeln 26
. Hoffnung auf die Aufloesung der buergerlichen Verkehrsform haengt im Marxismus am Arbeiterheiligenschein. Die Ueberwindung des Kapitals scheint nur denkmoeglich, solange ein archimedischer Punkt ausserhalb des kapitalistischen Sytems auszumachen ist, und das Proletariat soll und muss diesen Part uebernehmen. Das ueberlieferte Revolutionsverstaendnis wiederholt damit die klassische buergerliche Subjektillusion. Die revolutionaere Subjektivaet wird nicht von den inneren Widerspruechen der Wertvergesellschaftung freigesetzt, sie faellt aus dem transbuergerlichen Himmel. Die Ueberlebensfaehigkeit der buergerlichen Gesellschaft haengt nicht von ihr selbst ab, sie erscheint als Funktion der Lebenskraft und des Selbstbewusstseins einer ihm fremden Subjektivitaet. Die Staerke des Kapitals ist die Schwaeche des Proletariats. Wo immer der tradierte Marxismus das Ende des Kapitalismus ins Auge fassen will, wechselt er von einer Betrachtungsweise, die auf der Analyse der inneren Logik des Kapitals zielt, in transzendente Gefilde ueber. Sobald die Marxisten auf die apostrophierte, mit der Fortexistenz des Kapitals unvereinbare Grenze zu sprechen kommen, deuten sie diese nicht immanent, sondern verorten sie in letzter Instanz immer in dessen vermeintlichem Kontrapunkt a priori, in der Arbeiterklasse. In den marxistischen Denkgewohnheiten ist das Ende des Kapitalverhaeltnisses nicht nur mit der revolutionaeren Bewusstwerdung des Proletariats kurzgeschlossen, der Arbeiterklasse kommt ihr revolutionaerer Charakter nur in demselben Masse zu, wie die Verstrickung in die Haendel der schnoeden buergerlichen Wirklichkeit an der Substanz proletarischen Daseins nichts aendert. Die revolutionaere Arbeiterklasse verkoerpert eine hoehere Form kindlicher Unschuld 27
.
Ein revolutionaeres Subjekt, das auf diese Weise aus der objektiven Wirklichkeit der schnoeden buergerlichen Gesellschaft ins Metaphysische entrueckt, kann auch nur mehr gewaltsam mit dem Gedanken einer objektiven Schranke des Kapitals kurzgeschlossen werden. Denn entweder ist es die subjektive Kraft des Proletariats, das Fleisch gewordene sozialistische Prinzip, die dem Kapital als einer wesensfremden Macht ein Ende setzt, oder es ist die buergerliche Form selber, die sich durch ihre Selbstentfaltung zur Strecke bringt. Wo das Proletariat seinem arbeitsontologischen Wesen nach als revolutionaer gilt und daher als Garant der kommunistischen Umwaelzung figuriert, ist fuer diese zweite Option vom Zerfall des Kapitalverhaeltnisses, fuer seine objektive Krise, kein Platz. Wenn die Verschmelzung von Marxismus und Arbeiteremanzipation paradigmatisch den theoretischen Rahmen vorgeben, dann bleibt in diesem Bezugssystem kein Raum, um den Gedanken einer objektiven Schranke theoretisch umzusetzen. Er kann nur unter die Vorherrschaft der Arbeiterselbstherrlichkeit subsumiert und damit in sein Gegenteil pervertiert ueberleben. Genau diesem Schicksal fiel die Vision einer dem Kapital immanenten Schranke zum Opfer. Im arbeiterbewegten Universum ueberlebt der Gedanke einer objektiven Schranke nur als Schatten und dem Schein nach. Das eilfertige Lippenbekenntnis geht mit einer gruendlichen Metamorphose einher, die vom intendierten Gehalt nur eine Worthuelse uebrig laesst. Der Versuch, zu verdeutlichen, was denn nun genau unter der absoluten immanenten Schranke des Kapitals zu verstehen sei, fuehrte stante pede und unweigerlich zum Rekurs auf die allseits vertraute und geliebte Arbeiterklasse.
Diese Lesart kann durchaus an bestimmte Ausfuehrungen im Marxschen Werk anknuepfen. Selbst im "Kapital" rutscht Marx gelegentlich in die Arbeiterbewegungsdiktion. Besonders eine Passage war beliebt, wenn es darum ging die transitorische Rolle des Kapitals auf die klappernden Muehlen der Arbeiterbewegungsherrlichkeiten zu leiten. Was Marx am Ende des 24. Kapitels des "Kapital" schrieb wurde tausendmal zitiert: .azi
"Mit der bestaendig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, waechst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empoerung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblueht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unvertraeglich werden mit ihrer kapitalistischen Huelle. Sie werden gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlaegt. Die Expropriateurs werden expropriiert." 28

Was Marx in diesem Absatz seinen Epigonen schon in den Mund legt, kauen diese bis zum Erbrechen und noch darueber hinaus ein Jahrhundert lang genuesslich wieder. In der Vorstellungswelt der alten Arbeiterbewegung ist deshalb mit dem Untergang des Kapitalismus zu rechnen, weil das Kapital bei der Herstellung und Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches nicht nur sich selber setzt, sondern in der lebendigen Arbeit gleichzeitig auch sein Gegenprinzip bestaendig auf erweiterter Stufenleiter reproduziert. Das Kapital ist an seinem eigenen Tod lediglich indirekt beteiligt. Es leitet seine Abschaffung insofern ein, als es nicht in der Lage ist, den ganzen gesellschaftlichen Raum auszufuellen und neben seiner selbst ein massenhaftes, seiner ganzen Natur nach zur Transzendierung des kapitalistischen Systems genoetigtes, Proletariat erzeugt. Das Kapital geht zugrunde, weil seine Expansion ungluecklicherweise an das Wachsen und Erstarken der Arbeiterklasse gekoppelt ist. Es findet seine absolute Schranke den beiden populaersten Varianten von arbeiterbewegtem Aberglauben zufolge im "stetigen Wachstum des Proletariats an Kraft und Zahl", bzw. in der unaufhaltsamen "Verelendung der arbeitenden Massen", die sie unweigerlich zum Aufstand treibt. Diese durch und durch arbeitersubjektivistische Logik bringt der klassische Marxismus mit dem "Objektivismus" der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie zur Scheindeckung, indem er sich auf "objektive Faktoren" kapriziert, die der Wandlung von der "Klasse an sich" zur "Klasse fuer sich" foerderlich sein sollen. Damit vertuscht der Marxismus aber nur notduerftig und in heilloser Begriffverwirrung sein grundlegendes Quidproquo, die ungenierte Verkehrung der im Proletariat gesetzten vermeintlichen Gegensubjektivitaet zur objektiven Schranke des Kapitals. Statt die subjektivistisch-soziologistische Grundkonstellation zu ueberwinden, vernebelt das marxistische Denken dieses Basisraster nur und zementiert es.
Arbeiterstandpunktssubjektivismus und kruder oekonomistischer Objektivismus schliessen einander nicht nur nicht aus, sie bedingen einander im tradierten marxistischen Denken. Besonders krass stoesst ihr geheimes einvernehmliches Miteinander im Werk von Karl Kautsky auf. Er vereinigt in seiner Theoretikerperson geradezu klassisch beide Pole des arbeiterseligen Universums. Einerseits fabuliert er fuer gewoehnlich genuesslich von den "ehernen oekonomischen Notwendigkeiten", und geht in seinem Vulgaermaterialismus sogar soweit, die hollaendische Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts mit der Entwicklung des hollaendischen Wollhandels kurzzuschliessen, andererseits steht hinter diesem Primitivoekonomismus ein blanker darwinistisch gestrickter Subjektivismus. In letzter Instanz entspringt der Kampf der Arbeiter aus dem "Willen zu leben" und auch die revolutionaere proletarische Bewegung hat diese ontologische Bestimmung zum Urquell ihrer Kraft:
"Wenn nicht der Urgrund aller oekonomischen Notwendigkeit, der Wille zu leben, in den Arbeitern aufs kraftvollste wirkte, wenn dieser Wille in ihnen erst kuenstlich geweckt werden muesste, dann waere all unser Streben vergeblich. " 29

Der Untergang des Kapitals bleibt gerade bei dieser Vogelscheuche von marxistischem Objektivismus im Grunde schon in der nackten biologischen Existenz der Arbeiterklasse angelegt. Das Kapital zerschellt schliesslich am proletarischen Urgestein; es geht unter, sobald die Arbeiterklasse mit sich, d.h. ihrem vorgeblich revolutionaeren Wesen ins Reine kommt 30
.
Diese hanebuechene Reduktion der Marxschen Theorie ist, wie wir weiter oben schon gesehen haben, bereits im Spannungsverhaeltnis zwischen dem "esoterischen" und "exoterischen" Marx praeformiert, das das Marxsche Werk insgesamt charakterisiert. Waehrend bei Marx der Positivbezug auf die reale Arbeiterbewegung und die radikale Fetischismuskritik nebeneinander existieren, loesen seine arbeiterbewegten Epigonen den unhaltbaren inneren Gegensatz ebenso zielsicher wie einseitig zugunsten der Vision einer proletarischen Revolution auf. Ohne den geringsten Anflug von Problembewusstsein ignorieren sie das dunkel-unverstaendliche fetischismuskritische Raunen und werfen sich dafuer voll Inbrunst auf die Option einer triumphierenden und endlich zur politischen Herrschaft gelangenden Arbeiterklasse. Die filigrane Zauberformel "Selbstaufhebung des Proletariats", in der Marx mit einiger theoretischer Akrobatik die selbstbewusste proletarische Aktion beschwoert, sie aber gleichzeitig an die radikale Kritik des Arbeiterdaseins zurueckkoppelt, weicht im nachfolgenden Arbeiterbewegungsmarxismus der simplen Affirmation eines positiv verstandenen Arbeiterstandpunkts. Der unbedingte Glaube an den revolutionaeren Beruf der Arbeiterklasse rutscht ins Ontologische. Das Proletariat gilt im Selbstverstaendnis der revolutionaeren Arbeiterbewegung nicht mehr als die negative Seite der buergerlichen Gesellschaft, sie wird zur positiven, bereits "an sich seienden" transbuergerlichen, revolutionaeren Groesse verklaert. In dieser tief eingeschliffenen Lesart wird der revolutionaere Charakter zum Wesensmerkmal der Arbeiterklasse. Jede Abweichung von dieser zugeordneten Grundbestimmung kann daher nur mehr in die vom heutigen Standpunkt schon pathologisch wirkenden Kategorien des mangelnden Bewusstseins, der boeswilligen Manipulation und der ueblen Bestechung 31 eingeordnet werden.

5. Objekt-Subjekt-Dichotomie und Determinismus

Der Gedanke einer immanenten objektiven Schranke der kapitalistischen Produktionsweise zielt auf deren Totalitaet. Er ist nur dann sinnvoll durchhaltbar, wenn der Begriff Objektivitaet weit gefasst wird und die handelnden, von der Wertform erzeugten Subjekte, konsequent mit einschliesst. So etwas wie eine objektive Schranke ist nur dann denkmoeglich, wenn die von der Wertvergesellschaftung hervorgebrachten sozialen Klassen als Bestandteil der objektiven Wirklichkeit und nicht als deren Widerpart gefasst werden. Der Gedanke einer objektiven immanenten Schranke unterstellt stillschweigend die Analyse des Konstituierungszusammenhangs mit, der die konkurrierenden Exekutoren der buergerlichen Vergesellschaftung erzeugt. Der traditionelle Marxismus verfuegt an diesem Punkt ueber keinerlei Problembewusstsein. Das Konstitutionsproblem verkommt in der ueberlieferten Marxrezeption durchgaengig zur black box. Die Ausfuehrungen zum Thema im Marxschen Werk quittieren die Marxisten konsequent mit Unverstaendnis und Desinteresse 32
. Sie haken diese entscheidende Schnittstelle revolutionaerer Theoriebildung, soweit sie sie ueberhaupt wahrnehmen, unter der Rubrik esoterische Spitzfindigkeiten ab. Die Folgen dieser Betriebsblindheit sind ebenso durchschlagend wie verheerend. Da der Marxismus die Klassen und ihren Konkurrenzkampf ganz unbekuemmert als voraussetzungslose, nicht mehr hintergehbare Entitaet behandelt und sich den Zugang zum Konstitutionsproblem hermetisch versperrt, ist er ausserstande, die Frage nach dem Subjekt in die Analyse der objektiven Wirklichkeit zu integrieren. Er kann sie nur mehr als gesonderte Spezialfrage, jenseits einer objektiven Seite der historischen Entwicklung formulieren. Die Wirklichkeit zerfaellt ihm unweigerlich in den unaufhebbaren Dualismus von Subjekt und Objekt. Wo immer er auch auf die ihn umgebende Realitaet trifft, spaltet sie sich ihm im Handumdrehen in auseinanderstrebende "subjektive" und "objektive Faktoren" 33
. Die Totalitaet des gesellschaftlichen Prozesses verliert sich im Dunkeln und weicht dem mechanischen Wechselspiel einander aeusserlicher objektiver und subjektiver Faktoren. Alle Versuche, die beiden auseinanderdriftenden Haelften wieder zusammenzubringen, gleichen innerhalb dieses Universums dem Versuch der Quadratur des Kreises, und so praegt die unaufgeloest durchgeschleppte Subjekt-Objekt-Dichotomie, von den Marxisten vorzugsweise euphemistisch als "Dialektik" bezeichnet, das Antlitz des Marxismus bis zum heutigen Tag.
Das Auftreten einer fremden, ausserhalb der handelnden Subjekte angesiedelten Wirklichkeit knackt deren esoterisch-undurchdringlichen Status nicht auf, sondern bestaetigt ihn nur. Die bis zum Exzess apostrophierte "Wechselwirkung" zwischen Subjekt und umgebender Wirklichkeit bleibt allzeit brav mechanisch und belaesst das handelnde Subjekt in seiner Kernsubstanz unangetastet im exterritorial-ontischen Vorraum. Der einigen Theoretikern der alten Arbeiterbewegung zugeordnete Objektivismus fuegt sich bestens in dieses Raster ein. Der Objektivismus … la Hilferding oder Kautsky ist keineswegs die radikale Kritik des Subjektivismus, fuer den ihn seine Gegner und Anhaenger halten, sondern dessen Zwillingsbruder. Das Grunddilemma von aprioristischem Subjekt und aussermenschlichem, quasi naturgesetzlichem, gesellschaftlichem Prozess laesst sich eben nicht durch Selbstbeschraenkung hintergehen. Wer sich auf inneroekonomisches Raesonnieren zurueckzieht, durchstoesst den fatalen Zirkel nicht, er schafft nur eine schmerzhafte Leerstelle. Die subjektivistische Gegenwende ist darin bereits praejudiziert. Was als diametraler Gegensatz erscheint, bildet ein zusammengehoeriges Denkuniversum. Genauso wie es enorme Schwierigkeiten bereitet, einen Magnetpol vom anderen zu isolieren, und sich bei jeder Teilung die bipolare Struktur wiederherstellt, genauso wenig koennen Objektivismus und Subjektivismus einander loswerden. Der Objektivismus schreit in seiner Konsequenz nach der notwendigen Ergaenzung durch sein immanentes Gegenteil und findet sie denn auch. Solange wir nicht zum Konstituierungsproblem durchstossen und damit den falschen Gegensatz von Objekt und Subjekt aufloesen, bleibt das Gegenstueck zum Objektivismus, das unbedingte Subjekt, das Geheimnis seines eigenen Vexierbildes. Weit davon entfernt, einander verdraengen zu koennen, fuegen sich "objektivistische" und "subjektivistische" Stroemungen im marxistischen Denken zu einer zusammenhaengenden Weltsicht zusammen, und nur die Gewichtung beider Faktoren macht den Streit zwischen den Konkurrenten aus 34
. Der Marxismus hat in seiner Geschichte den Kampf zwischen beiden Linien zu einer seiner Lieblingsmelodien gemacht. Bliebe er ungestoert, so koennte er dieses Wechselspiel noch jahrhundertelang fortsetzen, ohne dass aus dem im Grunde ewig gleichen Binnenkonflikt heraus noch irgendein vorwaertstreibender Impuls zu erwarten waere.
Der traditionelle Marxismus transportierte sein Lebtag die buergerliche Subjektillusion. In seinen Rastern steht dementsprechend fuer gewoehnlich das handelnde Subjekt, dessen Bedingungszusammenhang unhinterfragt bleibt, fuer die aktive, veraendernde Seite. Das Konstituierte erscheint als letztendliches Agens; die gesellschaftliche Objektivitaet hingegen gibt den passiven Hintergrund ab. Sie stellt das Material, das die mit unbedingten Willen begabten (Klassen)subjekte aus freier Schoepferkraft heraus umgestalten. Wo marxistische Theoriestraenge dieser durchgaengigen Subjektvergottung gegenueber den Selbstlauf des objektiven gesellschaftlichen Prozesses geltend machen, gelingt es ihnen nicht, dieses Wahrnehmungsraster zu durchbrechen. Was sich als innermarxistischer Gegenpol zum kruden Arbeiterbewegungssubjektivismus formiert, ist nur ein quietistisches Zerrbild, das seinem Kontrapunkt in jeder Beziehung wuerdig und ebenbuertig ist. Die marxistischen Oekonomisten, Lichtjahre davon entfernt, den Konstituierungszusammenhang aufzurollen, druecken sich konsequent um das Subjektproblem. Ihre Beschaeftigung mit determinierten Entwicklungen spart die determinierende buergerliche Formbestimmung selber aus und beschraenkt sich auf die Untersuchung vermeintlicher oder realer sozialer und oekonomischer Binnentrends. Diese Reduktion auf abgeleitete Ebenen im System der Kritik der politischen Oekonomie geht mit einer fatalen Positivwendung einher. Die aus ihrem Bezug auf die buergerliche Form herausgeloesten ehernen oekonomischen Gesetze werden nicht als abzuschaffendes Uebel thematisiert, sie gelten statt dessen als Verbuendete der sozialistischen Bewegung und als Garanten ihres letztendlichen Triumphes. Voll Gottvertrauen ueberlaesst sich diese Sorte von Marxismus dem determinierten Zusammenhang und erwartet, dass der blinde Selbstlauf aus sich heraus ohne Rekurs auf die Subjekte schon so etwas wie eine sozialistische Gesellschaft inaugurieren wuerde. Diese Sichtweise findet wohl im Hilferdingschen "Finanzkapital" ihre bekannteste und folgenreichste Auspraegung. Nur ein schmaler Grat trennt bei diesem Klassiker des Marxismus das kapitalistische "Generalkartell", das er an die Wand zu malen sucht, von einer wahrhaft sozialistischen Reproduktion. Und so waere ganz folgerichtig die blosse Uebernahme von sechs bis sieben Berliner Grossbanken durch den Staat vollkommen zureichend, um das imperialistische deutsche Kaiserreich in eine sozialistische Republik zu verwandeln. In dieser Lesart reimt sich der Verweis auf die Determiniertheit des buergerlichen Entwicklungsprozesses auf revolutionaeren Attentismus und fatalistische Zukunftshoffnung und verschmilzt mit ihnen zu einem Gesamtkomplex.
Die tief eingefressene Positivkonnotation verfehlt allerdings nicht nur die Stossrichtung der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie, sie verkehrt sie schlicht und einfach in ihr genaues Gegenteil. Die Marxsche Kritik der politischen Oekonomie intendiert keinen determinierten Uebergang zu einer sozialistischen Reproduktion. Das Vorhandensein objektiver gesellschaftlicher Zwangsgesetze ist ein Charakteristikum der buergerlichen Entwicklungsstufe. Der Uebergang zu einer kommunistischen Gesellschaft faellt so mit dem bewussten Sprung aus einer determinierten, von der Last der toten Arbeit bestimmten Wirklichkeit in eine den Reflexionen und Wuenschen der Menschen erstmals zugaenglichen Welt zusammen. Marx weist in seinen Schriften die Determiniertheit des gesellschaftlichen Prozesses nicht nach, um damit die Subjekte von ihrer transzendierenden Aufgabe zu entlasten. Die Marxsche Theorie, weit davon entfernt die deterministische Uebermacht des Objektiven zu vergoettern und sich mit ihr ins stille Einvernehmen zu setzen, ist ihrem ganzen Wesen nach gerade Kritik jeder Determiniertheit. Wenn Marx betont, dass unter kapitalistischen Bedingungen die Subjekte lediglich auf wachsender Stufenleiter die Zwangsgesetze der Wertvergesellschaftung exekutieren, und sich in der Folge auch die gesamtgesellschaftlichen Resultate ihres Handelns von jedem subjektiven Wollen und Begehren emanzipieren, so fuehrt er das keineswegs als Argument zur Verherrlichung und schliesslichen Anerkennung objektiver gesellschaftlicher Gesetzmaessigkeiten an, sondern konzentriert darin seine Kritik an der buergerlichen Vergesellschaftungsform! Das Kapitalverhaeltnis muss gerade deshalb verschwinden, weil in ihm die menschlichen Beziehungen die Form der Beziehungen von Sachen annehmen und in dieser Gesellschaftsformation die menschlichen Produkte ueber ihre menschlichen Produzenten triumphieren. Die buergerliche Gesellschaft setzt zu guter Letzt ihre eigene Aufhebung auf die Tagesordnung, weil sie keine ihrer selbst bewusste konkrete menschliche Subjektivitaet zulaesst, vielmehr unterschiedslos alle von ihr erzeugten Sozialkategorien ueber den Leisten der abstrakten Wertform schlagen muss und so ihre eigene Entwicklung auch nicht in den Griff bekommen kann. Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation vielleicht auf ein moralisches Verdikt hinauszulaufen, das in der Beschwoerung eines rein voluntaristischen revolutionaeren Akts gipfelt. Sie beinhaltet aber in doppelter Hinsicht mehr als das. Zum einen ist die Emanzipation der menschlichen Produkte von ihren Produzenten nicht nur ein skandaloeser Zustand; mit der Verobjektivierung und Verdinglichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ist gleichzeitig ,in noch sehr abstrakter und allgemeiner Form, bereits auch die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Entwicklung gesetzt! Zum anderen bedeutet die Krise nicht einfach die blinde Negation der bestehenden Ordnung und damit auswegsloses Chaos, sie steht selber fuer das angestaute Emanzipationspotential! Sie enthaelt, negativ verpuppt und ins Katastrophische verkehrt, die wesentlichen Bestimmungen einer kommunistischen Gesellschaft. Die Verobjektivierung des gesellschaftlichen Zusammenhanges, die bedingungslose Unterwerfung der Subjekte unter die Wertlogik, macht nicht die besondere Staerke, sondern die besondere Schwaeche und Instabilitaet des Kapitalverhaeltnisses aus. Wenn Marx gegen die kapitalistische Produktionsweise die Tatsache anfuehrt, dass in ihr den Menschen der Zugriff auf den eigenen Zusammenhang entzogen wird und sie marionettenhaft auf Traeger einer fremden ihnen vorausgesetzten Logik reduziert werden, so protestiert er damit gegen die unmenschliche Irrationalitaet kapitalistischer Vergesellschaftung, er arbeitet gleichzeitig aber auch in nuce ihre letztliche Unhaltbarkeit heraus. Eine Vergesellschaftungsform, die sich um den Wert als das determinierende automatische Subjekt zentriert, muss sich zu guter Letzt ad absurdum fuehren. Im Schatten, den die auf die Spitze getriebene wertfoermige Vergesellschaftung auf die Erde wirft, sind bereits die Umrisse des Kommunismus zu erkennen. Marx analysiert Wert und Verobjektivierung genau in diesem Sinn. Weder operiert er positiv mit ihnen noch verzweifelt er an der Unaufloesbarkeit einer schlechten Wirklichkeit. Der Gedankengang muendet in die Antizipation der Aufhebung des beschriebenen Zustands. Die Kritik eines vom Wert durch und durch determininierten Gesellschaftzustands spitzt sich zum Gedanken einer objektiven Schranke zu.
Wenn wir die Marxsche Kritik der politischen Oekonomie unter diesem Blickwinkel zu reformulieren versuchen, so muss eins dabei von vornherein klar sein. Die objektive Krise der kapitalistischen Form muss die Krise der vom Wert konstituierten Sozialkategorien mit einschliessen. Die Krise des Werts ist unweigerlich auch die der abstrakten wertfoermigen Subjektivitaet. Der gesellschaftliche Prozess setzt Momente revolutionaerer Subjektivitaet nur in demselben Masse frei, wie er das abstrakte Ware-Geld-Subjekt zersetzt. Wenn wir die totale Krise der Wertform und die darin enthaltene revolutionaere Perspektive aufzeigen und konkretisieren wollen, so muessen wir untersuchen, wie die totale Krise der Wertform auf die wertfoermig konstituierten Existenzweisen durchschlaegt, sie entleert und ins Wanken bringt.
Die Frage nach der Genesis revolutionaerer Subjektivitaet wird nicht ueberfluessig, wenn wir von einer dem Kapital immanenten objektiven Schranke ausgehen, sie stellt sich unter gaenzlich veraenderten Vorzeichen jenseits aller aprioristischen Raster neu und damit erst wirklich radikal. Der Rekurs auf die Fetischismuskritik als den Angelpunkt des Marxschen Werkes bedeutet zwar den radikalen Abschied vom revolutionaeren Subjekt a priori, die Frage nach revolutionaerer Subjektivitaet ist damit aber genausowenig erledigt wie eine revolutionaere Perspektive.


6. Die negative Fortschreibung des Subjektmythos

Der marxistische Apriorismus hat viele Spielarten. Der klassische Arbeiterbewegungsmarxismus ist nur sein aeltestes und naivstes Sediment. Die Kritik des Apriorismus muss auch die abweichenden Versionen einschliessen, in denen das marxistische Denken die praktische Entweihung des Arbeiterstandpunkts innerhalb seiner aprioristischen Raster verarbeitet. Die Ueberhoehung des Arbeiterinteresses zur transbuergerlichen Gewalt ist Ausgangspunkt, aber nicht Schlusspunkt unserer antiaprioristischen Ueberlegungen.
Wann immer sich der klassische Arbeiterbewegungsmarxismus mit der Ueberwindung des Kapitalverhaeltnisses beschaeftigte, war die Arbeiterklasse als revolutionaeres Subjekt a priori Dreh- und Angelpunkt. Jede revolutionaere Perspektive hatte die Deifizierung des Proletariats zur Grundlage. Die Frage nach der Formbestimmung dagegen war fuer die Theoretiker der 2. und 3. Internationale und ihre Adepten ein unbekanntes boehmisches Dorf. Sie wiederholten statt dessen ohne Anflug von Problembewusstsein die buergerliche Subjektillusion mit proletarischem Vorzeichen und besangen den Arbeiter als den unbedingten und nicht hintergehbaren geschichtlichen Heros. Der geschichtliche Horizont schien ebenso klar und deutlich vorgezeichnet wie strahlend. Der unaufhaltsame Zug der selbstbewussten Arbeitermassen zur Sonne, zur Freiheit endet aber abrupt und unschoen. Das Vertrauen in die selbstbewusste proletarische Kraft, die revolutionaere transbuergerliche Emphase der Arbeiterbewegung, zerplatzte unter der eindringlichen Erfahrung von Stalinismus, Faschismus und Wirtschaftswunder. Diese tiefen historischen Einschnitte erschuetterten den aprioristischen Revolutionsoptimismus bis in seine Grundfesten und machten ihm in seiner ungebrochenen Form ein fuer allemal den Garaus. Mit dem faelligen Katzenjammer vollzog das marxistische revolutionstheoretische Denken eine einschneidende Wende. Konfrontiert mit den Unbilden des realen historischen Prozesses schalteten die sensibleren Elemente im oppositionellen Geistesleben vom reichlich derangierten revolutionaeren Optimismus auf jene Trotzhaltung gegenueber der empirischen Entwicklung um, die seitdem deren Diktion wesentlich charakterisiert. In Deutschland markiert vor allem die Kritische Theorie und ihre Verbreitung diesen Umschlag. Die Vertreter der Frankfurter Schule stossen sich energisch vom altvorderen Standpunkt einer sich revolutionaer gerierenden Arbeiterapologetik ab. Den vorgaengigen Marxismen, die ihre revolutionaere Hoffnung immer auf dem ontischen proletarischen Urgestein gegruendet haben, halten sie die reale Integration der Arbeiterschaft, die Subsumtion der proletarischen Massen unter die buergerliche Form entgegen. Am naiven Gottvertrauen in die revolutionaere Reinheit des Proletariats verzweifend, machen die Kritischen Theoretiker, allen voran Adorno und Horkheimer, gegenueber der hausbackenen arbeiterbewegungsmarxistischen Konkurrenz die Reichweite und Tiefendimension kapitalistischer Fetischisierung geltend, die auch die Arbeiterklasse in ihren Bann schlaegt. Die fortschreitende Verdinglichung, die unaufhaltsame porentiefe Durchdringung aller gesellschaftlichen und individuellen Beziehungen durch die Kapitallogik wird zum zentralen und unerschoepflichen Thema des gesamten Theoriestrangs.
So beeindruckend sich die Frankfurter Schule vom Arbeiterbewegungsmarxismus abhebt, so wichtig und vorwaertstreibend ihre Kritik an der marxistischen Arbeiterstandpunktsapologetik auch war, sie blieb unzureichend. Denn Adorno, Horkheimer und die uebrigen Protagonisten der Kritischen Theorie kamen ueber das aprioristische Subjektdenken nicht hinaus, sie verarbeiten den Zusammenbruch des aprioristisch argumentierenden Arbeiterbewegungsmarxismus selber wiederum innerhalb des vertrauten Schemas. Statt die Analyse des Konstitutionszusammenhangs bis zur Kritik des Apriorismus ueberhaupt weiterzutreiben, verschob die Kritische Theorie nur den Ursprung des aprioristischen Koordinatensystems. Die Kritischen Theoretiker ersetzen das blamierte unbedingte Arbeitersubjekt, an dem sich die kapitalistische Wirklichkeit in der arbeiterbewegungsmarxistischen Diktion zu messen hatte, durch Alternativversionen aprioristischer Subjektivitaet.
Der archimedische Punkt ausserhalb bleibt dabei zwar schillernd, oft im Ungefaehren und wird nicht selten nur implizit angegeben, in dieser Diffusitaet ist das aprioristische Subjekt aber allgegenwaertig. Indem sie die reale historische Entwicklung unter dem Aspekt der Subjektvernichtung wahrnehmen, unterstellen die Kritischen Theoretiker damit logisch immer gleichzeitig eine schon vorgaengig vorhandene Subjektivitaet, die durch die kapitalistische Ueberformung im nachhinein erst ausgeloescht wird 35
. So facettenreich die Frankfurter Schule und ihre Entwicklung war, so wiederholt sie diese Grundkonstellation doch durchgaengig. Vom grundsaetzlichen Wahrnehmungsraster her ist es nur von sekundaerer Bedeutung ob das ichstarke buergerliche Indivduum, das Idealbild der Freudschen Psychoanalyse, als verblichenes Gegenbild zur totalen Verdinglichung herhalten muss, oder ob die aprioristische Subjektivitaet mit der hellen Seite der Aufklaerung identifiziert wird. In allen Faellen fuehrt erst die subjektillusionaere Grundierung zu den pechschwarzen Toenen in denen die Kritischen Theoretiker ihr Bild vom Siegeszug der Wertbeziehung halten. Das aprioristische Subjekt figuiriert als die Messlatte an der sich das Faktische als das schlechte Faktische enthuellt. Zum liquidierten Paradies stilisiert, gibt es den unvermeidlichen Kontrapunkt zum diagnostizierten Subjektverfall ab. Die Kritische Theorie bleibt auf diese Weise negativ auf das aprioristische revolutionaere Subjekt fixiert.
Der Unterschied zur Marxismusorthodoxie erschoepft sich wesentlich im Vorzeichenwechsel, er trifft nicht die Grundstruktur. Im Arbeiterbewegungsmarxismus kam das aprioristische Subjekt offensiv und naiv soziologistisch daher. Die Frankfurter Schule vernebelt es ins Philosphische und/oder verschiebt es in die Vergangenheit. Wo im Arbeiterbewegungsmarxismus am historischen Horizont eitler Sonnenschein herrschte, droht bei den Frankfurtern stockdunkle Nacht. Das aendert aber nichts daran, dass es immer noch ein und derselbe Denkhimmel ist, der uns da praesentiert wird.
Der Salto mortale rueckwaerts schuetzt das Grundraster vor der falsizifizierenden empirischen Wirklichkeit und schafft die Grundlage fuer den nunmehr 40 Jahre dauernden Altweibersommer des ergrauten und truebsinnig gewordenen systemoppositionell fuehlenden Apriorismus. Statt die aprioristischen Raster abzustreifen, um den Konstitutionszusammenhang auf die seiner eigenen Dynamik inhaerenten Bruchlinien abzuklopfen, orientiert sich die Kritische Theorie bis in ihre Enkelgeneration hinein nach rueckwaerts und schoepft ihr radikales Nein zur verdinglichten modernen buergerlichen Gesellschaft aus Rueckerinnerung an den liberalistischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und einem aufs Mikrologische beschraenkten Messianismus 36
. In dieser Verarbeitungsform wahrt die Kritische Theorie im klaren Bruch mit der klassischen Apotheose der Arbeitersubjektivitaet die Kontinuitaet des zugrundeliegenden Kategoriensystems. Wie der klassische Marxismus, so kreist auch die kritische Haeresie, wann immer sie sich dem Problem der Ueberwindung des Kapitalverhaeltnisses zuwendet, unweigerlich um das revolutionaere Subjekt a priori. Das Zentralgestirn hat seine einstige Leuchkraft eingebuesst und ist laengst zum weissen Zwerg geschrumpft, aber dennoch bleibt jeder Gedanke an die Transzendierung der buergerlichen Gesellschaft bis zum heutigen Tag in seinem Gravitationsfeld eingefangen. Veroedet und ohne Hoffnung auf Erloesung umlaufen die restlichen Planeten theoretisch argumentierender Systemopposition bis zum heutigen Tag beharrlich die verschrumpelte aprioristische Sonne. Die ernuechternde praktische Demontage jener Revolutionshoffnung die sich aus der Apologetik des Arbeiterstandpunkts speist, hat das aprioristische Sonnensystem nachhaltig veraendert aber nicht gesprengt.
Der Preis, den die Kritische Theorie und ihre Adepten fuer die unkritische Verlaengerung des Apriorismus zu zahlen hat, ist hoch. Er besteht im endgueltigen Verlust jeder revolutionaeren Perspektive. Wo der Ausbruch aus dem Verblendungszusammenhang an die Figur eines aprioristischen Subjekts gekoppelt ist, muss die Darstellung der fortschreitenden Versachlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen logisch im Postulat der Unaufhebbarkeit des kritisierten Verhaeltnisses gipfeln 37
. Weil die Kritische Theorie die entscheidende Widerspruchsebene nicht als dem verobjektivierten Verhaeltnis immanent betrachtet, sondern sie statt dessen ganz traditionell ihrem Wesen nach in den Gegensatz von aprioristischer Subjektivitaet und Verdinglichung verlegt, verschwindet mit der Entfaltung des Kapitals die revolutionaere Option im Orkus. Die immanenten objektiven Widersprueche moegen vielleicht fortexistieren. Sie scheinen auf jeden Fall stillgestellt und unerheblich geworden, weil der subjektive archimedische Punkt ausserhalb fehlt, an dem dieser Hebel ansetzen koennte um wirksam zu werden. Im Laufe ihrer Entwicklung schliesst sich die schlechte kapitalistische Wirklichkeit zur wasserdichten "negativen Totalitaet", weil sie die Diskrepanz zwischen Subjektivitaet und dem objektiven gesellschaftlichen Prozess ausloescht. Der Verweis auf den allgegenwaertigen Konstituierungszusammenhang, der allen in der buergerlichen Gesellschaft existierenden Sozialkategorien zugrunde liegt, macht in diesem Interpretationsmuster den Traum einer nicht verdinglichten kommunistischen Gesellschaft gegenstandslos. Indem sie ihre radikale Kritik an der buergerlichen Gesellschaft nach diesem Strickmuster formuliert, spricht die Kritische Theorie daher gleichzeitig das Verdikt ueber ihre eigene historische Durchschlagskraft. Die Wirklichkeit, der sich Adorno und die anderen gegenuebersehen, draengt nicht zum kritischen Gedanken, sondern mit aller Gewalt von ihm weg 38
. Mit dem aprioristischen Subjekt verschwindet die Hoffnung auf die Aufhebbarkeit des herrschenden Schlechtfaktischen aus dieser Welt. Die Kritischen Theoretiker sehen den "nicht verdinglichten Rest" dahinschmelzen, und damit droht ihnen die menschliche Geschichte schon in ihrer Vorgeschichte zu verenden. Weil die buergerliche Gesellschaft unbedingte Subjektivitaet nicht zulaesst, verwandelt sie sich zum monolithischen Block, der jede Negationsbewegung laengst verschluckt hat. Die Dynamik und Rasanz der realen historischen Entwicklung verkommt zu einem ebenso grausamen wie tautologisch-sinnlosen Prozess, der die Herrschaft des Kapitals bis zum Ende der Zeiten nur mehr bestaendig auf erweiterter Stufenleiter reproduziert 39
.
So stimmig und in sich geschlossen diese Argumentation auch wirkt, so bruechig erweist sich bei genauerem Hinsehen das zugrundeliegende Paradigma. Wenn die Kritische Theorie und die Heerscharen ihrer Adepten die Entfaltung des Werts notorisch als fortschreitenden Subjektivitaetsverlust deuten und beklagen, so sitzen sie einem Phantom auf. Die allzeit ausgemalte "Vernichtung von... Subjektivitaet durch den Prozess der reellen Subsumtion" 40
, "die Regression der Massen", "die tendenzielle Annaeherung ihrer Erfahrungswelt an die der Lurche" 41
trifft die reale historische Entwicklung schon deshalb nicht, weil sie etwas als Verlust deklariert, was vorab niemals existiert hat! In keiner Phase der Vergangenheit hatten die Massen je ihre amphibische Existenzweise ueberwunden. Die Herstellung abstrakter geldfoermiger Subjektivitaet bedeutet daher nicht die Vernichtung einer bereits vorhandenen autochthonen Version. Gerade umgekehrt, als abstraktes buergerliches Geld- und Warensubjekt erblickt das Individuum ueberhaupt erst das Licht der Welt! Individualitaet und Subjektivitaet werden keineswegs vom Wert und seinen Emanationen historisch verdraengt, sie sind selber, wenn auch in abstrakter, dem Warenfetisch unterworfener Form, das genuine Produkt der Entfaltung der Wertbeziehung. Erst der Siegeszug der buergerlichen Form zersetzt alles quasi-natuerliche und setzt an seine Stelle die bis dahin unbekannte Frage nach dem Subjekt als Massenphaenomen. Vor dem Entstehen der buergerlichen Gesellschaft, in den organischen auf unmittelbarer Herrschaft beruhenden Formationen kann von sozialer Individualitaet genau genommen gar nicht die Rede sein 42
. Es bedarf schon eines geruettelten Masses an Idealisierung und Romantizismus, um in der viehisch-waldurspruenglichen Existenzweise der vorbuergerlichen baeuerlichen Massen so etwas wie Subjektivitaet ausmachen zu wollen. Die Menschen fuegten sich in diesen Verhaeltnissen einfach bruchlos in vorgegebene Rollen ein und kamen gar nicht auf die Idee, die vorgezeichneten Lebensgleise auch nur zu hinterfragen. Sie vegetierten statt dessen in stumpfsinniger Selbstverstaendlichkeit dahin. Bauer und Baeuerin waren in ihrer organischen Gebundenheit auf den sozialen Zusammenhang bezogen genausowenig Subjekt wie die Kuh, mit der sie unter einem Dach lebten. Das bornierte, noch halb staendisch-gebundene proletarische und kleinbuergerliche Elend des beginnenden Jahrhunderts war ebenfalls kaum der geeignete Naehrboden, auf dem sich Individualitaet zur Bluete haette entfalten koennen. So etwas wie individuelles Denken und Fuehlen konnte sich vor dem 20. Jahrhundert nur in ganz wenigen gesellschaftlichen Nischen, vor allem im Schoengeistigen halten, und markierte selbst wiederum schon die Morgendaemmerung buergerlichen Denkens. Erst der Durchmarsch der Wertbeziehung loeste endlich die organischen Verwachsungen auf, die bis dato die breite Masse der Menschen an ihren eng eingezirkelten Lebenskreis gefesselt hatten und schuf mit zunehmender Rollendifferenzierung und der Moeglichkeit alternativer Lebensentwuerfe die Voraussetzung zur Entwicklung von Individualitaet und Subjektivitaet. Er oeffnet den Menschen einen bis dahin ungeahnten Kosmos gesellschaftlicher und persoenlicher Moeglichkeiten. Waehrend in vorkapitalistischen Formationen die Menschen nach Herkommen und Tradition sich in einen ererbten und vorgezeichneten Lebenslauf einzufuegen hatten, konstituiert die Wertform eine breite Palette von Existenzweisen, zwischen denen die modernen Individuen waehlen koennen und muessen. Die Entfaltung abstrakter Geldsubjektivitaet bedeutet gegenueber dem status quo ante daher einen gewaltigen Emanzipationsschub.
Die Befreiung von unmittelbar personalen Abhaengigkeitsverhaeltnissen, die Etablierung abstrakter Geldsubjektivitaet ist allerdings keineswegs gleichbedeutend mit der Herstellung idyllischer Zustaende. Die sukzessive Herausbildung des abstrakten Geld- und Warensubjekts bricht sich unter gewaltsamen und opferreichen Friktionen Bahn, und an ihrem Ende steht keine in sich abgerundete Existenz, sondern ins Unhaltbare gesteigerte menschliche Selbstzerrissenheit. Das abstrakte, wertfoermig konstituierte Subjekt kann sich nicht vollenden, ohne sich dabei in die Luft zu sprengen. Gleichgueltig gegen jeden bestimmten Inhalt bringt die Herrschaft der Wertform eine unertraegliche Leere und Beliebigkeit in die menschlichen Verhaeltnisse, die auf ihre Reproduktionsunfaehigkeit und Aufloesung draengt. Ohne Zugriff auf den realen gesellschaftlichen Zusammenhang, den der Wert als automatisches Subjekt den Menschen nur als aeusserlich fremde Zumutung aufherrscht, bleibt die nach der Wertmelodie konstituierte Subjektivitaet prekaer und ungastlich. An die Stelle der verdampften Gemuetlichkeit persoenlicher Abhaengigkeitsverhaeltnisse rueckt ein gaehnender Abgrund, der das moderne buergerliche Individuum in seinem labilen Gleichgewicht auf Schritt und Tritt bedroht. Das buergerliche Denken reflektiert auf seine Weise diesen Umstand. In der Geistesgeschichte der Moderne faellt die Frage nach dem Subjekt seit jeher mit der Bearbeitung der Krise des Subjekts zusammen und heute hat sich dieser "philosophische Diskurs" banalisiert und bis ins Massenbewusstsein verallgemeinert. Die grassierende Psycho- und Selbsterfahrungswelle lebt von einer tiefreichenden und notwendigen Verunsicherung. Der Siegeszug der Wertform saekularisiert und vermasst die Frage nach dem eigenen Selbst und holt sie vom Himmel esoterisch-philosophischer Eroerterung auf die Erde. Das moderne monadisierte Subjekt fuehlt sich als solches, indem es seiner selbst nicht sicher ist. Die Suche nach der eigenen Subjektivitaet wird ein millionenfach erlittenes lebenspraktisches Problem. Die erwachende Subjektivitaet kann sich selbst zunaechst nur als Sinnkrise und Krise des Subjekts gewahr werden.
Vor diesem Hintergrund wird die romantisierende Form des Apriorismus verstaendlich. Weil abstrakte Individualitaet nur als schreiender Widerspruch erfahren werden kann, ideologisches Bewusstsein aber immer nach Befriedung streben muss, spaltet das buergerliche Denken das nicht mehr hintergehbare Ideal der Subjektivitaet als Naturkonstante vom realen Leiden an der abstrakten geldfoermigen Durchsetzungsform ab. Das Ergebnis ist paradox. Die Regression in den Mutterschoss vorindividueller Verhaeltnisse paart sich mit der Beschwoerung des Subjekts. Auf der Flucht vor diesem schmerzhaft unertraeglichen Zustand rettet sich das moderne, an sich selbst leidende ideologische Bewusstsein ins Reich der Projektion und macht das Arkadien der freien Subjektivitaet ausgerechnet in Bedingungen aus, die jeden Anflug individueller Regung verunmoeglichen. Kritizistisch-maekelnd malen sich die scheinkritischen Zeitgeiststroemungen in der Vorvergangenheit eine eigentliche urspruengliche Subjektivitaet aus, um dann nach Herzenslust und folgenlos ueber die nachtraegliche Entfremdung jammern zu koennen. In dieser Verarbeitungsform verliert die Sehnsucht nach unbedingter Subjektivitaet ihre Sprengkraft. Sie verwandelt sich in einen rueckwaertsgewandten Irrglauben und regrediert zum zivilisationsmueden Mythos vom edlen Wilden. In der gegenwaertigen linken Debatte treibt diese Figur besondere Blueten. Sie bewegt sich ueber weite Strecken in dieser durch und durch reaktionaeren Bahn. Das Habermassche "Lebenswelttheorem" weist hier ganz aehnliche Zuege auf wie die in feministischen und autonomen Kreisen weit verbreitete Vorstellung von "Subsistenzproduktion" 43
. In all diesen Faellen haust Subjektivitaet und Individualitaet ausschliesslich in den wirklichen oder vermeintlich vorwertfoermigen Beziehungen 44
.
Der galoppierende Niveauverfall darf aber nicht darueber hinwegtaeuschen, dass diese Sichtweise bereits in der von der Frankfurter Schule vertretenen Position praejudiziert ist. Die kruden ideologischen Kuemmerformen, mit denen die linksoppositionellen Ideologen operieren, popularisieren die Themamelodie, die, theoretisch reflektiert, Adorno und Horkheimer intonieren. Die Kritische Theorie kann die ausweglosen Schrecken kapitalistischer Herrschaft nur plastisch malen, weil sie fuer den historischen Hintergrund irgendwo klammheimlich idyllische Toene mitverwendet. Die "Dialektik der Aufklaerung", die den Sieg des rationalen Denkens an das Verhaengnis der Barbarisierung koppelt, hat dieser Argumentation zufolge in der Vergangenheit Konstellationen erzeugt, die der Entfaltung von Subjektivitaet und Individualitaet weit guenstiger waren als die moderne Form der Vergesellschaftung. Allerdings schweifen Horkheimer und Adorno auf der Suche nach einem handgreiflichen Gegenmodell zur modernen buergerlichen Gesellschaft nicht wie die modernen Linksromantizisten zurueck in praebuergerliche Vorvergangenheiten. Sie erwaehlen statt dessen die buergerliche Fruehform fuer diese Funktion. Der Prozess der Aufklaerung ist in ihrer Interpretation nicht einfach gleichzusetzen mit dem linearem Verfall menschlicher Selbstbestimmung, in seinem zwieschlaechtigen Verlauf setzt er gleichzeitig die Bluete buergerlicher Kultur im 19.Jahrhundert als die eigentliche goldene Aera von Individualitaet und Subjektivitaet. Es ist gerade der Kontrast mit der embryonalen Stufe der Wertvergesellschaftung, der die Verallgemeinerung der abstrakten Wertbeziehung als Prozess fortschreitender Barbarisierung enthuellt. Das verlorene Individuum der Kritischen Theorie ist nicht, und das macht ihre Ueberlegenheit gegenueber ihren unbewussten und bewussten Adepten aus, der vorbuergerliche in staendisch-organischer Bornierung vegetierende Mensch, sondern der klassische Bildungsbuerger.
Auf dieser Grundlage scheint das Bild, das die Kritische Theorie von der Zerstoerung von Individualitaet zeichnet, weit plausibler als die mythologisierenden Phantasien der nachfolgenden Zivilisationsfluechtlinge. Stimmig und kohaerent ist aber auch diese Variante der Beschwoerung eines besseren Gestern nur, wenn wir den klammheimlich vollzogenen Ebenensprung uebersehen, der sich in den Arbeiten der Frankfurter Schule regelmaessig wiederholt und konstitutiv fuer deren Kritik an der modernen buergerlichen Gesellschaft ist. Die Verfallslinie, die Adorno und andere beim Uebergang zur Massenkultur mit ihren genormten und sterilen Produkten ausmachen, laesst sich nur dann ziehen, wenn wir die buergerliche Geistesentwicklung statt vom gesellschaftlichen Durchschnittsniveau von ihren Vorzeigeexemplaren her betrachten. Die klassischen Geistesgroessen sterben im Laufe der Entfaltung der Wertbeziehung in der Tat aus. Nach Kant und Hegel verflacht das buergerliche Denken, verliert zusehends an Tiefe und Selbstreflexionsfaehigkeit und erreicht im Positivismus und in der modernen Systemtheorie allmaehlich seinen Nullpunkt. Mit dem theoretischen Gehalt des buergerlichen Geistesbetriebes versinkt auch jene kleine, eng umgrenzte bildungsbeflissene Buergerschicht unwiederbringlich im Meer "sekundaeren Analphabetentums", die den sozialen Untergrund einstiger Bluete bildete. Dieser Trend darf allerdings nicht einfach mit der Entwicklung des Massenbewusstseins identisch gesetzt werden, wie das die Frankfurter Schule unter der Hand tut 45
. Das vielgepriesene klassische Bildungsbuergertum bildete nur eine ganz duenne Firnisschicht auf einem Meer von Unwissen und Bornierung. Sie war keineswegs fuer das gesellschaftliche Reflexionsniveau bestimmend. Fuer das Gros der Population beinhaltet die Metamorphose zum "sekundaeren Analphabeten" ganz im Gegensatz zur Lesart der Kritischen Theorie einen gewaltigen Sprung nach vorn, weil sie nicht nur metaphorisch, sondern faktisch das primaere Analphabetentum zur Ausgangsbasis hat! Wenn wir die in ihrer unmittelbaren Existenz bornierten, unwissenden Volksmassen, die noch zu Beginn des Jahrhunderts die breite Grundlage des gesellschaftlichen Getriebes bildeten, zum Vergleich heranziehen, dann stellen Massenkonsum und Massenkommunikation trotz aller Beschraenktheit und Perversion sehr wohl einen radikalen Fortschritt dar. Wer sich vor Augen fuehrt, dass die uebergrosse Mehrheit der Bevoelkerung nie in der Lage war, ueber den eigenen Kirchturm hinauszuschauen und ihr Dasein in muffiger Bornierung verbrachte, der muss selbst noch dem vielgeschmaehten Fernsehen eine den Horizont erweiternde Funktion zubilligen. Erst recht gilt das fuer die Bildungsinstitutionen. Der Untergang des Humboldtschen Bildungsideals ging mit der Vermassung von Qualifikationen und auch Kenntnissen ueber allgemeine Zusammenhaenge einher, die in der bisherigen Geschichte keine Parallele hat. Die Bundesdeutschen koennen sich heute nicht mehr als das "Volk der Dichter und Denker" zelebrieren, dafuer bewegt sich aber der Anteil der "Gebildeten" an der Gesamtbevoelkerung auch nicht mehr im Promillebereich. Wenn hierzulande mittlerweile mehr als 50% einer Jahrgangsstufe im Laufe ihrer Schullaufbahn die Hochschulreife erlangen, so bedeutet dies trotz der instrumentellen Zurichtung von Wissen gleichzeitig die massenhafte Erzeugung geistiger Potenzen, ohne die eine kommunistische Gesellschaft fuer immer Utopie bleiben muss.
Es ist keineswegs ausgemacht, dass das Kapitalverhaeltnis allzeit Abzugskanaele schaffen kann, um die von ihm erzeugten menschlichen Kompetenzen systemkonform abzuleiten. Der Tauschwert kann sich vom Gebrauchswert nicht emanzipieren und der tautologische Selbstzweck der Verwertung des Werts nicht von den menschlichen Faehigkeiten, die er massenhaft erzeugt und anwendet. Der grundlegende Widerspruch zwischen der Entwicklung universeller Produktivkraefte unter der Aegide des Kapitals und den bornierten buergerlichen Produktionsverhaeltnissen, der Gegensatz von stofflichem Inhalt und Wertform, wiederholt sich zwangslaeufig an den Subjekten. Das Kapital schafft mit der Verwissenschaftlichung und stofflichen Vergesellschaftung der Produktion gleichzeitig seine Totengraeber, weil es die Produktivkraefte, deren es sich bedient, nicht in rein sachlicher Form, sondern immer auch als menschliche Faehigkeit setzen muss. Aus den Springquellen gesellschaftlichen Reichtums, die das Kapital oeffnet, stroemt nicht nur eine Ueberfuelle an stofflichem Reichtum, sondern als dessen zugehoeriges Pendant auch ein Mass von Kompetenzen und Beduerfnissen, die ueber die Wert- und Geldfoermigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhangs hinausschwappen. Die Inkongruenz zwischen modernen Produktivkraeften und dem System abstrakter Reichtumsanhaeufung erscheint wieder als die allmaehlich heranreifende Faehigkeit der Individuen, sich von den ihnen in dieser Gesellschaft zugemuteten geldfoermigen Sozialkategorien und Rollen zu distanzieren.

Anmerkungen

1
Auf diese Matrix greift etwa Kurt Huebner in seiner Entgegnung auf Robert Kurz in der "Konkret" vom April 90 zurueck. Mit schon bewundernswerter Ignoranz setzt er dort kurzerhand fundamentale Wertkritik und Stalinismus in eins. Die einzig denkmoegliche Variante der Aufhebung von Geld- und Warenform hat in dieser Interpretation Pol Pot vorexerziert.

2
Diesem Muster bleibt auch die Zeitschrift "Kritik und Krise" treu. In ihrem Sonderdruck zur Leipziger Buchmesse 1990 koennen wir zum Paradoxon der "Aktualitaet des Kommunismus" lesen:"Die Notwendigkeit der Revolution befindet sich in umgekehrt proportionalem Verhaeltnis zu ihrer Moeglichkeit."

3
Das gilt gleichermassen fuer die sozialpsychologisch orientierten Beitraege von Wolfgang Pohrt wie fuer die Kulturkritik eines Christoph Tuercke.

4
Stefan Breuer, Krise der Revolutionstheorie, Frankfurt 1977, S.45

5
ebenda. S.49

6
Die gleiche These vertritt auch Helmut Koenig in seinem Buch "Geist und Revolution". Auch er scheidet im Marxschen Werk fein saeuberlich zwischen revolutionaeren Flausen und davon nicht beeintraechtigter handfester Analyse der kapitalistischen Logik.

7
Ich habe diese Position zusammen mit Robert Kurz in dem Beitrag "Klassenkampffetisch" in der "MK"7 dargestellt. Ich nehme den dort entwickelten Faden in diesem Aufsatz wieder auf.

8
Breuer argumentiert allerdings reichlich kurzschluessig, wenn er aus diesem Sachverhalt die Identitaet von Form und Inhalt schlechthin ableitet. Die zunehmende Vernetzung des gesellschaftlichen Zusammenhangs unter dem Vorzeichen des Werts erschoepft sich eben nicht nur in der Erzeugung gleichgeschalteter unmittelbarer Produktionsarbeit, sie setzt gleichzeitig notwendig auch andere menschliche Potenzen, die sich nicht zwanglos und ein fuer allemal der tautologischen Bewegung der Verwertung des Werts einfuegen. Die Befriedung des unmittelbaren Produzenten durch Eingemeindung in den pax capitalistica ist keineswegs das letzte Wort der Geschichte. Die fortschreitende stoffliche Vergesellschaftung schiebt die Figur des unmittelbaren Produzenten, die lebendige Grundlage des Kapitals zusehends in den Hintergrund und macht sie schliesslich obsolet. Damit steuert das Kapital nicht nur zielsicher in seine Krise, es setzt parallel dazu Fermente transbuergerlicher Subjektivitaet frei.

9
Stefan Breuer kann sie aus zwei Gruenden nicht ausmachen. Erstens haelt er ganz selbstverstaendlich an der Vorstellung aprioristischer Subjektivitaet fest. Andererseits spart er in seiner Rezeption der Kritik der politischen Oekonomie deren Gipfelpunkt - ihre krisentheoretischen Implikationen - aus. In beidem bleibt er im Dunstkreis der Frankfurter Schule stecken, der er ansonsten durchaus kritisch gegenuebersteht.

10
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Oekonomie, Berlin/Ost, 1974, S. 595

11
Es muss einer nachfolgenden Arbeit ueberlassen bleiben, die These vom doppelten, januskoepfigen Marx genauer zu entwickeln und auch philologisch zu belegen. Der geneigte Leser muss sich hier zunaechst mit der nackten These begnuegen. Ihre solide Absicherung wuerde aber den Rahmen dieses Thesenaufsatzes hoffnungslos sprengen.

12
Mehr noch als bei Marx springt dieses Abkippen in den Arbeiten seines Kompagnons ins Auge. Das liegt aber sicher nicht daran, dass sich die Positionen von Engels und Marx grundlegend unterschieden haetten, sondern resultiert wohl in allererster Linie aus der Arbeitsteilung der beiden Klassiker. Gerade weil Engels viel mehr als Marx den Part der Vermittlung und Popularisierung uebernommen hatte, geraet er zwangslaeufig in den Sog der schnoeden empirischen Wirklichkeit, die sich partout noch nicht auf der Hoehe des Marxschen Begriffs befindet. Marx selber bleibt bei der rein analytisch begrifflichen Bestimmung diese Zumutung in weit hoeherem Masse erspart. Es ist zwar in gewissen Kreisen populaer, aber wenig glaubhaft, dem reinen alles durchschauenden Marx ein doof-trotteliges Faktotum namens Engels an die Seite zu stellen, das fuer alle Boecke ausschliesslich verantwortlich zu machen waere. Seine wichtigsten und wohl auch fragwuerdigsten Schriften verfasste Engels grossteils noch zu Lebzeiten von Marx unter dessen Aufsicht (etwa den "Antiduehring") und wir koennen kaum annehmen, dass diese Schriften in dieser Form veroeffentlicht worden waeren, wenn Marx Entscheidendes einzuwenden gehabt haette. Aber das sei hier nur am Rande bemerkt.

13
Dieses theoretische Deutungsmuster wird bei Marx und Engels von einem fast schon mystisch zu nennenden Vertrauen in die fiktiven revolutionaeren Instinkte insbesondere der deutschen Arbeiter flankiert. Konfrontiert mit der realen Borniertheit der protegierten sozialdemokratischen Bewegung kritisieren Marx und Engels in ihrem Briefwechsel ueber Jahre hinweg konsequent bis aetzend die theoretischen "Eseleien" der deutschen Sozialdemokraten. Trotzdem bleiben sie dieser Partei in der Erwartung treu, dass die Arbeitermassen sich nicht von den Dummheiten ihrer Fuehrer affizieren lassen wuerden. Realiter entsprachen der Bewusstseinsstand von Fuehrern und Gefuehrten einander recht genau. Wer sich das Studium der Marx-Engels Briefe sparen will, dem vermittelt bereits die klassische Engelsbiographie von Gustav Mayer zumindest einen Ueberblick ueber das ausgesprochen gespannte Verhaeltnis der "Londoner Alten" zur gehaetschelten Sozialdemokratie.

14
MEW 26.2, S. 510

15

16
Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Oekonomie, Berlin(Ost), 1974 S.66

17
Ebenda, S. 112

18
In meiner Kritik an Henryk Grossmanns Zusammenbruchstheorie in der "Marxistischen Kritik" Nr. 5, habe ich die fuer den klassischen Marxismus konstitutive Umwandlung der Marxschen Wertkritik zu einer Variante der Ricardianischen Werttheorie exemplarisch dargestellt.

19
In den vom Standpunkt der fundamentalen Wertkritik in dieser Zeitschrift bereits veroeffentlichten grundlegenden krisentheoretischen Beitraegen wird diese enge Verknuepfung spuerbar. Die gleichen Entwicklungen, die die buergerliche Gesellschaft in die strukturelle Krise fuehren, sind gleichzeitig die Voraussetzung fuer die revolutionaere Aufhebung dieser Formation und die Grundlage einer nicht wertfoermigen gesellschaftlichen Reproduktionsform. Wenn der allein tauschwertschaffende unmittelbare Produzent sukzessive zuruecktritt, verliert damit nicht nur das System der Verwertung des Werts seine lebendige Grundlage, parallel dazu bildet sich ein stofflich schon eng vernetztes gesamtgesellschaftliches Aggregat heraus, das allein die Basis einer kommunistischen Gesellschaft sein kann. Die Ausdehnung der wertmaessig unproduktiven gesellschaftlichen Rahmensektoren (Infrastruktur, Ausbildungsbereich etc.) wird als faux frais kapitalistischer Produktion zur erdrueckenden Last, in ihr erscheint aber auch eine Stufe von stofflicher Vergesellschaftung, die die direkte Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhangs notwendig und erstmals in der Geschichte moeglich macht. Die strukturelle ueberzyklische Arbeitslosigkeit der letzten Jahre charakterisiert mit den Eintritt des Kapitals in seine Krisenepoche. Sie setzt aber gleichzeitig in verquerer unmenschlicher Form die "disponible time", die nach Marx den wahren Reichtum jeder Gesellschaft ausmacht. Was hier unter kapitalistischen Bedingungen zur Bedrohung wird und negativ als Nichtzustand der "Arbeitslosigkeit" definiert ist, wird in der kommunistischen Bewegung mit einem positiven Inhalt gefuellt ("produktiver Muessiggang") und avanciert zum Zukunftsversprechen. Die Krise setzt in negativer Form, unter katastrophischen Vorzeichen, Momente frei, die die kommunistische Revolution zusammenbringen und positiv wenden muss, um den Aufbau einer neue Reproduktionsform zu organisieren.

20
Henryk Grossmann versteht sich als Fachoekonom und ueberlaesst diese theoretische Aufgabe bewusst lieber anderen. Rosa Luxemburg hat dagegen einen universaleren Anspruch. Ihre theoretischen Anstrengungen verteilen sich auf beide Gebiete. Allerdings aendert das nichts am Grundproblem, sondern laesst es nur noch krasser in einer Person hervortreten. Kein inneres Band knuepft "Die Akkumulation des Kapitals" an die politischen Schriften der Rosa Luxemburg. Beide Teile ihres Werks stehen einander aeusserlich gegenueber. Darin zeigt sich die Groesse und die Beschraenktheit ihrer Position. Sie wandelt zwischen den theoretischen Welten, in die das Universum der marxistischen Theorie auseinanderbricht und sie kann in ihnen allen wertvolle Beitraege liefern. Sie schafft es aber nicht, dieses Auseinanderdriften zu thematisieren und umzukehren.

21
Charakteristisch und daher in unserem Zusammenhang auch bemerkenswert ist die Position von Rudolf Hilferding. Hilferding widerspricht explizit und energisch der Vorstellung einer dem Kapital immanenten Schranke und nimmt dafuer auch noch die Autoritaet von Marx in Anspruch. In seinem beruehmt-beruechtigen Referat "Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik", gehalten 1927 auf dem sozialdemokratischen Parteitrag in Kiel, findet sich folgende phaenotypische Passage: "Ich habe immer zu denen gehoert, die jede oekonomische Zusammenbruchstheorie ablehnten, weil gerade Karl Marx den Nachweis erbracht hat, dass eine solche oekonomische Zusammenbruchstheorie falsch ist...Wir sind von jeher der Meinung gewesen, dass der Sturz des kapitalistischen Systems nicht irgendwie fatalistisch zu erwarten ist, nicht aus inneren Gesetzen des Systems eintreten wird, sondern dass der Sturz des kapitalistischen Systems die bewusste Tat der Arbeiterklasse sein muss." Zitiert nach dem Protokoll der Verhandlungen des sozialdemokratischen Parteitages 1927 in Kiel, Berlin 1929, S.165.

22
MEW 25, S. 260.

23
Die unausweichliche Seligsprechung der unmittelbaren Produzenten hat natuerlich auch den Blickwinkel bestimmt, unter dem der Marxismus den Produktionsprozess als solchen wahrgenommen hat. Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs ein Zufall, dass der traditionelle Marxismus permanent dem Drang erlegen ist, das Kapital als blosses Zirkulationsphaenomen zu betrachten, und, ohne einen Gedanken auf das Problem der abstrakten Arbeit zu verschwenden, den Produktionsprozess als an sich zweckrationalen, nur technischen Notwendigkeiten folgenden Stoffwechsel mit der Natur im Grunde genommen von allen Graesslichkeiten des Kapitalverhaeltnisses freizusprechen. Explizit finden wir eine solche zirkulationsbeschraenkte Position etwa bei Rudolph Hilferding, aber auch am anderen Ende marxistischer Theorie, in den Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel. Ihre Kritiker haben sich von dieser Zirkulationsbornierung nur verbal, unter Hinweis auf den Wortlaut der Marxschen Schriften distanziert, selten in der Sache.

24
Vergleiche in diesem Zusammenhang den Artikel "Der Klassenkampffetisch" in der "MK"7, insbesondere S. 29-33.

25
Das zugrundeliegende Muster ist bis heute erhalten geblieben. So erklaert sich auch die pessimistische Wendung, die sich in der Linken in den letzten Jahrzehnten breit gemacht hat. Solange der Gedanke der Revolution an die Existenz eines aprioristischen revolutionaeren Subjekts geknuepft bleibt, jeder Fortschritt in der Wertvergesellschaftung aber nach und nach alle Sozialkategorien als Emanationen der alles umgreifenden Wertform enthuellt, muss die Aufhebung der buergerlichen Form mehr und mehr unmoeglich erscheinen. Der Prozess der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital begruendet in dieser Logik den Ewigkeitscharakter des Kapitals. Die Revolution war vielleicht einmal im 19. Jahrhundert moeglich oder in der 3.Welt, sie ist es aber nicht mehr. Nicht nur die Arbeiterklasse, auch die revolutionaeren Ersatzsubjekte (soziale Randgruppen, Frauen etc.), haben die in sie gesetzten revolutionaeren Hoffnungen blamiert, und jede Neuauflage des Apriorismus faellt von vorneherein von Mal zu Mal schaler und unglaubwuerdiger aus.

26
Dementsprechend war die Trennung zwischen eigentlicher revolutionaerer Mission und schnoedem Alltagsgeschaeft, dem das Proletariat innerhalb des kapitalistischen Rahmens ebenfalls noch nachzugehen hat, im Marxismus ein durchgaengiges Problem. Sie hat sich in den unterschiedlichsten Verlaufsformen theoretisch und politisch reproduziert. Die Unmoeglichkeit, vom reformistischen Kleinkrempel zur Entwicklung revolutionaerer Strategien durchzustossen, die innere Blockade des Marxismus, zeigt sich besonders krass im "revolutionaeren Attentismus" der 2. Internationale. Wir finden sie auf anderer Ebene, aber genauso wieder, etwa in den theoretischen Verrenkungen von Luk cs' "Geschichte und Klassenbewusstsein". Luk cs geht wie gewohnt von einem an sich revolutionaeren Wesen des Proletariats aus, kann aber in der Empirie kein rechtes Erscheinen dieses Wesens ausmachen. Im taeglichen Handeln ueberlagert die kapitalistische Form dieses eigentliche Wesen, und Luk cs kann es nur dechiffrieren, indem er auf die Methodenebene ausweicht und das Problem zu einem des Blickwinkels verwaessert.

27
Das erklaert auch, warum so etwas wie eine revolutionaere Linke heute nicht mehr existiert, und nur mehr voellig realitaetsblinde Exemplare verflossener Spezies an tradierten Revolutionsmustern positiv ansetzen wollen. Gerade die Krisenerscheinungen loeschen auch den letzten Schein eines aprioristischen revolutionaeren Subjekts aus und ueberfuehren alle Sozialkategorien, gleichermassen Emanationen der Wertform zu sein. Solange die Linke nach einem von der Herrschaft des Kapitals in seinen Grundfesten unberuehrten Subjekt Ausschau halten muss, um sich die Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft vorstellen zu koennen, muss sie sie ob dieser schnoeden Realitaet zur Denkunmoeglichkeit erklaeren und in Pessimismus verfallen.

28
MEW 23, S.790 f.

29
Karl Kautsky, Wille zur Macht

30
Das gleiche Problem, an dem die Glaubwuerdigkeit des revolutionaeren Marxismus zerbricht, stellt sich allerdings auch, wenn die Arbeiterklasse als aprioristisches revolutionaeres Subjekt durch andere, allesamt von der buergerlichen Form konstituierte Sozialkategorien ersetzt wird. So etwas wie ein objektives Ende des Kapitalverhaeltnisses kann erst recht nicht antizipiert werden, wenn Randgruppen, Frauen etc. fuer das versagende Proletariat in die Bresche springen sollen. Das Kapitalverhaeltnis hat seine Tiefenwirkung und formt alle Sozialcharaktere nach seinem Bilde. Die crux jeder traditionellen Revolutionsvorstellung liegt bereits darin, dass sie ueberhaupt darauf angewiesen ist, so etwas wie ein revolutionaeres Subjekt a prioiri anzunehmen. Die Herausbildung kommunistischer Subjektivitaet bedeutet in Wirklichkeit gerade den Bruch mit allen vorgefundenen sozialen Kategorien. Sie entspringt nicht der konsequenten Fortsetzung irgendeines von der Wertform konstituierten Interesses, sie setzt gerade dort ein, wo deren Integrationskraft und Faehigkeit zur Sinnstiftung ausbrennt.

31
In diese Rubrik faellt etwa die These Lenins von der Arbeiteraristokratie, die heute noch in den Klagen der antiimperialistisch angehauchten Weltveraenderer und ihrer christlichen Kollegen aus den 3. Welt-Gruppen widerhallt.

32
Diese bemerkenswerte Ignoranz kennzeichnet den Marxismus im uebrigen als eine ganz vulgaere Wald- und Wiesenart des buergerlichen mainstreams in der Geistesgeschichte. Die Aporien, in denen sich die Marxrezeption verfaengt, sind die gleichen, mit denen sich das buergerliche Denken seit Kant abquaelt, ohne sie jedoch ueberwinden zu koennen.

33
Auf niedrigerem Niveau und bar jeden Problembewusstseins reproduziert sich hier das aus der Kantschen "Kritik der reinen Vernunft" bekannte Verhaeltnis zwischen erkennendem Subjekt und Erkenntnisgegenstand. Beide stehen einander wesensverschieden gegenueber und nichts fuehrt aus dem aeusserlichen, die Substanz der Dinge aussparenden Verhaeltnis heraus.

34
In den Hochzeiten der alten Arbeiterbewegungsseligkeit schien der ausdrueckliche Verweis auf den Arbeiterstandpunkt und die revolutionaere Aktion der Arbeiterklasse als ueberfluessig, weil selbstverstaendlich. Die fuehrenden theoretischen Koepfe der Vorkriegssozialdemokratie konnten nur deshalb sich in den ehernen oekonomischen Notwendigkeiten, die den Sieg des Sozialismus nach sich ziehen wuerden, ruecksichtslos suhlen, weil sie dem Proletariat einen quasi ontologisch-revolutionaeren Charakter anhefteten. Erst als diese Selbstverstaendlichkeit mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und der Blamage der internationalen Arbeiterbewegung einen ersten tiefen Riss erlitt, musste die im Marxismus immer schon enthaltene subjektivistische Unterstroemung sich explizit bemerkbar machen. Was zum Problem geworden war, wurde ein zusaetzlicher Schwerpunkt revolutionaerer Theorie. Fuer diesen Umbruch steht in erster Linie Lenin mit seiner "revolutionaeren Organisationswissenschaft", aber auch der westliche Marxismus, etwa Luk cs.

35
Diese Denkfigur reproduziert gleichzeitig auch die altehrwuerdige Subjekt-Objekt-Dichotomie, die uns weiter oben bereits beschaeftigt hat. Die moderne buergerliche Gesellschaft dementiert auf Schritt und Tritt platt empirisch die im klassischen Marxismus proklamierte unbefleckte Unschuld der Subjekte. Die laengst unausweichlich gewordene Desillusionierung hebelt aber das grundlegende Wahrnehmungsraster nicht aus. Die dichotomische Zerteilung der Wirklichkeit in Subjekt und objektive Sphaere erweist sich als ausgesprochen zaeher Brocken von bemerkenswerter Ueberlebensfaehigkeit, und so handelt das marxistische Denken die praktische Blamage der optimistisch-revolutionaeren Variante des Subjekt-Objekt-Dualismus eilfertig wiederum auf dessen unhinterfragter Grundlage ab. Sobald der Marxismus dazu genoetigt ist anzuerkennen, dass das Reich der handelnden Subjekte doch von dieser, vom Wert geformten Welt sei, verstuemmelt er diese Erkenntnis und bricht ihr die inhaerente kritische Spitze. Er uebersetzt das unabweisliche Erscheinen des Konstituierungszusammenhangs an seinen Exekutoren in eine aeussere Zudringlichkeit. Der Glaube an das unbedingte Subjekt rettet sich durch die Verdopplung von Subjektivitaet in vorausgesetzte eigentliche und eine uneigentliche-unterworfene. Die Subjekt-Objekt-Schablone bleibt auf diese Weise auch dort erhalten, wo das gewaltsame Eindringen des Verdinglichungszusammenhanges thematisiert wird. Die Vertreter der Frankfurter Schule interpretieren Entfremdung, Verdinglichung und den Endsieg objektivierter Gewalt als die gnadenlose sukzessive Eroberung der Subjektsphaere durch die Objektivitaet. Im Habermasschen Lebenswelttheorem fabriziert diese Sichtweise ihr zeitgenoessisches Auslaufmodell. Aber auch schon die unverduennte Kritische Theorie laesst das gescheiterte unbedingte Subjekt ,selbstbescheiden und pessimistisch geworden, als vermeintlich "nicht reduzierbaren subjektiven Rest" ueberleben. Der Endsieg der falschen Objektivitaet, die Zerstoerung des unverdinglichten Rests ist nur ein Grenzfall innerhalb der Objekt-Subjekt-Matrix. Die im Arbeiterbewegungsmarxismus unterstellte unbedingte Subjektivitaet reuessiert damit auch in der Kritischen Theorie und bewahrt ihre Stellung als entscheidende Triebfeder jeder transzendierenden gesellschaftlichen Bewegung. Sie figuriert als Gradmesser des vorhandenen Emanzipationspotentials, nur leider zeigt die Uhr nahezu auf Null.

36
Fuer diese beiden Aspekte der Kritischen Theorie stehen in erster Linie auf der einen Seite der aeltere Horkheimer und andererseits der aeltere Adorno. Vergleiche in diesem Zusammenhang: Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, Muenchen 1986.

37
Zumindest Adorno und Horkheimer sind ohne falsche Ausfluechte diesen Weg bis zu seinem Ende gegangen. Ihre gnadenlose Konsequenz macht ihre Ueberlegenheit gegenueber dem populaereren, aber dafuer auch eher flachen Herbert Marcuse aus. Adornos Kritik an der buergerlichen Gesellschaft schuerft tiefer, weil er nicht dem Zwang nachgibt, sie in eine praktische Perspektive zu stellen. Er verzichtet darauf, ein revolutionaeres Subjektsubstitut irgendwo hervorzuzaubern, wie das Herbert Marcuse mit seinem obskuren Randgruppentheorem tut.

38
Auf dieser Grundlage hat die Kritische Theorie natuerlich Probleme, sich selber zu erklaeren. Sie kann sich nur-mehr als Auslaufmodell begreifen, als letztes Aufflackern des Geistes vor dem Untergang im Meer bewusstloser Barbarei.

39
Diese Sicht schlaegt auch unangenehm auf den Habitus durch, mit dem sich die zeitgenoessischen Adepten der kritischen Theorie mit Vorliebe der schnoeden Wirklichkeit naehern. Der durchschnittliche, moderne Kritische Theoretiker geriert sich als angeekelter, besserwisserischer Zuschauer, der vor jeder analytischen Anstrengung bereits das Ergebnis seines Bemuehens im Grunde genommen sicher hat. Mit dieser sterilen Haltung decken die Erben der Kritischen Theorie durchaus eine Facette des von ihnen so gern und vehement kritisierten Zeitgeistes selber mit ab.

40
Stefan Breuer, Krise der Revolutionstheorie, S.15

41
Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklaerung, Frankfurt 1978, S. 36

42
Der Prozess der Subjektwerdung des Menschen hat verschiedene Ebenen, die analytisch streng auseinanderzuhalten sind. Bezogen auf die erste Natur faellt der Uebergang des Menschen zum Status des Subjekts schlicht und einfach mit der sukzessiven Entkopplung seines Daseins von der Instinktgrundlage zusammen. Im selben Masse wie sich die menschliche Gattung nach und nach aus dem uebrigen Tierreich heraushebt, verwandeln sich die Einzelexemplare der Spezies dem blinden Naturprozess gegenueber zu Subjekten. Unter diesem Gesichtspunkt sind Menschsein und Subjektsein synonyme Ausdruecke. Es fuehrt aber vollkommen in die Irre, wenn wir diesen grundlegenden und tiefstliegenden Aspekt der Genesis von Subjektivitaet kurzschluessig auf das Dasein der Einzelnen als soziale Subjekte uebertragen. Bezogen auf ihren gesellschaftlichen Zusammenhang sind die Menschen bis heute nicht zum Subjektstatus durchgestossen. Ihr gesellschaftlich soziales Dasein ist ihren subjektiven Regungen vorausgesetzt. Er existiert als Fetischzusammenhang und ist ihrem subjektiven Zugriff und ihrer Reflexionsfaehigkeit systematisch entzogen. Das gilt gleichermassen fuer alle bisherigen sozialen Formationen, vom archaischen auf Blutsverwandtschaft beruhenden System, bis zum modernen Geld- und Warenfetisch. Die menschliche Vorgeschichte umfasst eine Vielzahl aufeinander folgender fetischistischer Synthesesysteme, sie kennt aber keine konkrete Subjektivitaet. Mit der modernen buergerlichen Gesellschaft findet die im Fetischismus gefangene menschliche Vorgeschichte ihren Hoehepunkt und Abschluss. Die Krise abstrakter, vom Wert nach seinem Bilde gestanzter, Ware- Geldsubjektivitaet fuehrt an die Schwelle konkreter Subjektivitaet. Der erste Akt in dem sie sich manifestiert kann nur die Befreiung vom Fetischismus, die kommunistische Revolution sein.

43
Unter diese Rubrik fallen unter anderen die Erguesse mit denen sich die Zeitschrift "Autonomie" in ihrer Nummer 14 verabschiedet hat (vgl. dazu Nuno Tomatzky, Militanter Empirismus und IWF-Kampagne, in der "MK" 6) und die Beitraege der Bielefelder Feministinnen um Maria Mies und Claudia von Werlhof. "Frauen, die letzte Kolonie".

44
Die Zeitschrift "Autonomie" etwa ordnet revolutionaere Subjektivitaet ausschliesslich den praeproletarischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu. Diese verschwindet mit der Verwandlung der unterstaendischen Massen zu Arbeitern. Sie ueberlebt nur ausserhalb kapitalistischer Zudringlichkeit in einer synthetisch zurechtkonstruierten "Subsistenzproduktion". Bei diesem Denkmuster handelt es sich keineswegs um eine spezielle Marotte der Autonomie-Leute, sie ist weit verbreitet und charakterisiert unter anderem auch die zeitweilig recht populaere Thompsonrezeption.

45
Dieser Unterschied ist besonders auch dort festzuhalten, wo sich Vertreter der Frankfurter Schule mit den Psychostrukturen des modernen Individuums beschaeftigen. Wenn die Kritischen Theoretiker auf diesem Gebiet einen kulturellen Abstieg ausmachen, nehmen sie in stiller Regelmaessigkeit das Ideal eines autonomen, ichstarken Individuums als Messlatte, wie es Sigmund Freud gepraegt hat. Sie bemerken dabei nicht, dass die klassische Psychoanalyse die Verhaeltnisse einer kleinen buergerlichen Schicht reflektiert, nie aber fuer die Masse der Bevoelkerung gegolten hat. Wenn etwa Marcuse in "Der eindimensionale Mensch" die Umformung von Psychostrukturen mit dem Schlagwort "repressive Entsublimierung" charakterisiert, dann trifft diese Begriffsbildung die wirkliche Entwicklung schon deswegen nicht, weil eine diffizile psychische Leistung wie Sublimierung immer das Privileg einer verschwindenden Minderheit war. Da die dumpfe Masse der unmittelbaren Produzenten nie sublimiert hat, laesst sich mit dem Schlagwort Entsublimierung natuerlich auch nicht die Grundtendenz beschreiben, nach der sich die Massenpsyche historisch veraendert hat. Was nur als Raritaet vorhanden war, kann auch nicht massenhaft zurueckgenommen werden.