Strukturelle Überakkumulation und Krise der Erwerbsarbeit

von Klaus Peter Kisker
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Im Herbst 1996 haben die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute eine Prognose zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland vorgelegt. Sie prophezeien für das Jahr 1997 einen leichten Anstieg der Konjuktur, betonen aber, daß dieses Wachstum keine Entlastung des Arbeitsmarktes bringen wird, sondern im Gegenteil mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit gerechnet werden muß. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, die seit den 70er Jahren das Leben der Mehrheit der Bevölkerung wesentlich beeinflußt, wird dementsprechend weiter zunehmen.

Diese Angst bestimmt nicht nur das Leben in Deutschland. Nach einer Untersuchung der International Labour Organization (ILO) in Genf sind zur Zeit weltweit mindestens eine Mrd. Menschen arbeitslos. Das sind 20% der Weltbevölkerung bzw. ein Drittel derjenigen, die arbeiten können und arbeiten wollen.(1) Seit Mitte der 70er Jahre steigt die Arbeitslosigkeit sowohl im "reichen Norden", wie im "armen Süden" mit nur geringen Schwankungen ständig an. In den OECD­Ländern ist sie von 17,9 Millionen (1978) auf 33,9 Millionen im Jahr 1994 gestiegen, in der Europäischen Union von 7,3 (1978) auf 19 Millionen und in Westdeutschland von 1,3 (1981) auf rund vier Millionen im Jahr 1996.

Diese Zahlen sind bedrückend, zeigen aber nicht annähernd das Ausmaß der Entwicklung, sie sind allesamt geschönt. Alle Arbeitslosen, die sich in Umschulungsmaßnahmen befinden, die erzwungenermaßen nur Kurzarbeit leisten können oder in den Vorruhestand gehen mußten, die nicht mehr vermittelbar sind, sowie die, die es aufgegeben haben, sich regelmäßig bei den Arbeitsämtern zu melden, sind in den Arbeitslosenstatistiken nicht erfaßt. Wird diese "Stille Reserve" mitberücksichtigt, haben wir zur Zeit in der Europäischen Union über 25 Millionen und in der Bundesrepublik mindestens 7,4 Millionen Arbeitslose.

Auch das sogenannte Job­Wunder in den USA erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Fata Morgana. Die offizielle Arbeitslosenquote betrug Ende 1995 nur 5,7%. Das waren ca. 7,5 Mio Menschen. Zählt man die nichtregistrierten fünf bis sechs Mio. hinzu und berücksichtigt man diejenigen, die unfreiwillig Teilzeitarbeit verrichten (ca. 4,5 Mio.) ergibt dies bereits eine effektive Arbeitslosenquote von 14%. In den USA gibt es darüberhinaus ein Heer von "bedingt" Arbeitslosen. 8,1 Mio. US­Amerikaner haben einen Zeitvertrag, zwei Mio. arbeiten auf Abruf, 8,3 Mio. bezeichnen sich als selbständige Unternehmer, ohne ausreichende Einkünfte zu beziehen. Zählt man diese bedingt Arbeitslosen zu den oben genannten hinzu, kommt man auf eine Arbeitslosenquote von über 28%.(2) Kein Wunder, daß die Kriminalität epidemische Ausmaße angenommen hat.

Diese erschreckenden Daten zeigen nur die Oberfläche des Problems und reflektieren nicht die dahinterstehenden sozialen und persönlichen Schicksale, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und damit mit dem Schwinden von Lebenschancen verbunden sind. Noch bedrückender wird das Bild, wenn man sich die Prognosen über die zukünftigen Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten ansieht. Weltweit ist davon auszugehen, daß in Zukunft höchstens 20% der arbeitsfähigen Bevölkerung gebraucht werden. Das heißt, wenn alles so bleibt wie es ist, müssen wir uns mit einer "Ein­Fünftel­Gesellschaft" abfinden.(3)

Die von dieser jede Zivilgesellschaft zerstörenden Entwicklung Betroffenen und Bedrohten dürfen und müssen sich damit nicht abfinden. Massenarbeitslosigkeit ist keine Naturkatastrophe und nicht Schicksal der Menschheit. Sie ist ebensowenig durch die Technologie bedingt. Die neuen Technologien sind nicht plötzlich hereingebrochen, Computersteuerung, Telekommunikation etc. stammen aus den letzten 30 Jahren. Die sogenannten neuen Technologien ermöglichen betriebliche Restrukturierungen, aber sie erzwingen sie nicht. Erzwungen werden sie durch die kapitalistischen Regulationsmechanismen, durch die Konkurrenz.

Umbruchkrise der kapitalistischen Entwicklung

Eine genauere Analyse der gegenwärtigen Entwicklung(4) zeigt einen grundlegenden Wandel in der etwa 170jährigen Geschichte der kapitalistischen Länder. Zyklische Krisen sind für die kapitalistischen Systeme nichts Neues. Sie ergeben sich aus der Logik der kapitalistischen Steuerung und sind ihrem Wesen nach, unabhängig von der jeweiligen Wirtschaftspolitik, das Grundmuster jeder kapitalistischen Entwicklung. Aber seit Mitte der 70er haben wir es nicht mehr mit den gewohnten Bewegungsabläufen zu tun. Im Unterschied zu früheren Aufschwungphasen ist festzustellen:

  • daß die Arbeitslosigkeit im Zuge der Aufschwünge nicht mehr wesentlich abgebaut wird;
  • daß die Armut auch in den relativ reichen Ländern in Aufschwungsphasen zunimmt;
  • daß selbst in den Aufschwungphasen eine massenhafte Kapitalvernichtung stattfindet; insbesondere durch Fusionen mit Stillegungen;
  • daß eine in dieser Rigorosität noch nie zu beobachtende Verdrängungskonkurrenz eingesetzt hat, und
  • daß trotz dieser Kapitalvernichtung Überkapazitäten über den Zyklus hinweg bestehen bleiben.(5)

Diese neuen Phänomene ­ die in Westdeutschland kurzfristig durch den Anschlußboom überdeckt wurden ­ sind Zeichen eines Strukturbruches in der längerfristigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften. Dieser Strukturbruch ist weder Schicksal noch Folge politischer Fehler. Er ist unabhängig von der jeweils betriebenen Wirtschaftspolitik das Ergebnis der Steuerungsmechanismen dieser Wirtschaftssysteme. Er ist Folge des Konkurrenzkampfes, der jedes Unternehmen bei Strafe des Unterganges zur Erhöhung der Produktivität zwingt, das heißt, den Produktionsprozeß organisatorisch zu optimieren und zusätzliche, technisch fortschrittlichere Anlagen zu installieren.

Jede zyklische Belebung begann bis in die siebziger Jahre mit einer Erneuerung des Maschinenparks. In jeder Prosperitätsphase wurden zusätzliche, technisch fortschrittlichere Anlagen installiert. In jedem Abschwung wurde ein Teil der Produktionsmittel entwertet oder vernichtet. Die Folge war, am Beginn jedes neuen Zyklus standen mehr und technologisch wirkungsfähigere Anlagen bereit, als zu Beginn des vorangegangenen. Für die längerfristige Entwicklung bedeutete das:

  • gemäß der technischen Entwicklung wuchs die Mehrwertrate; ­gemäß des Wachstums des Kapitals wuchs die Profitmasse;

dies bedeutete aber auch:

  • gemäß des Ersatzes von Menschen durch Maschinen fiel die Profitrate.

Die Tendenz der längerfristig, d.h. über die konjunkturellen Schwankungen hinweg, fallenden Profitrate hat zu immer stärkeren Klagen der Industrie geführt, war aber solange für die Entwicklung der kapitalistischen Systeme unproblematisch, wie die fallenden Profitraten mit wachsendem Kapitalumfang durch steigende Profitmassen kompensiert werden konnten.

Neu ist nun seit Mitte der siebziger Jahre, daß die längerfristige Akkumulationsrate, das heißt, das neue, zusätzlich gebildete Realkapital, gesamtgesellschaftlich und tendenziell gesehen, nicht mehr ausreicht, den Fall der Profitrate zu kompensieren. Die Akkumulationsrate fällt stärker als die Profitrate. Die Folge ist: Seit Mitte der siebziger Jahre sanken im längerfristigen Trend nicht nur die Profitraten, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Profitmasse.(6) So ist zu erklären,

  • daß die Unternehmen weltweit die Realinvestitionen deutlich einschränken und sich ­soweit dies technisch möglich ist ­ auf Ersatz­ und Rationalisierungsinvestitionen beschränken;
  • daß sie zu Lasten der Realinvestitionen riesige Geldkapitale bilden, und
  • eher andere Firmen aufkaufen, als die Gewinne zum Ausbau bestehender Unternehmen zu verwenden.

Diese neuen Phänomene sind Zeichen eines Strukturbruches in der längerfristigen Entwicklung der Kapitalakkumulation. Diese als strukturelle Überakkumulation bezeichnete längerfristige Entwicklung, die als genereller Trend in allen OECD­Ländern zu beobachten ist, bedeutet: Die weltweit in praktisch allen Branchen bestehenden Überkapazitäten zwingen zu weiteren Rationalisierungsinvestitionen, die ohne entsprechendes Wachstum zu weiterer Vernichtung von Arbeitsplätzen führen müssen.(7)

Unterschiede zwischen zyklischer und struktureller Überakkumulation

Oberflächlich gesehen stellt die strukturelle Überakkumulation nur eine andere Dimension der zyklischen Überakkumulation dar. In beiden Fällen liegt eine profitmindernde Akkumulation vor. Aber hinter den quantitativen Differenzen verbergen sich qualitative Unterschiede.

Zyklisch werden Ersatzinvestitionen vorgenommen, nachdem im Abschwung eine Entwertung bzw. Vernichtung von zuviel akkumuliertem Kapital stattgefunden hat. Die Ersatzinvestitionen werden zwangsläufig auf höherem technologischen Niveau, das heißt als Rationalisierungsinvestitionen vorgenommen. Dann und soweit die Kapazitäten der Abteilung I durch die inter und intrasektorale Nachfrage nach Ersatz­ bzw. Rationalisierungsinvestitionen ausgelastet sind, werden hier Erweiterungsinvestitionen vorgenommen. 8 Diese Erweiterungsinvestitionen bewirken über zunehmende Beschäftigung eine Steigerung der konsumtiven Nachfrage und geben einen Impuls für eine die Expansion stützende Investitionskonjunktur. Die zyklische Überakkumulation ist das Ergebnis des kapitalimmanent logischen und auf Grund der Konkurrenzbedingungen zwingenden Investitionsverhaltens. Die positiven Investitionsanreize stellen sich ex post und plötzlich als "falsche" Signale heraus. Der Kontraktionsprozeß wird aufgehalten und die Voraussetzungen für einen erneuten Expansionsprozeß werden dadurch geschaffen, daß bei sinkenden Preisen die Reallöhne steigen und trotz steigender Arbeitslosigkeit auf Grund zunehmender Transferzahlungen die Konsumausgaben ein den Zyklus abfederndes Element bilden.

Strukturelle Überakkumulation ist eine längerfristig sich anbahnende, absehbare Entwicklung, die im Unterschied zur zyklischen Überakkumulation nicht auf zwangsläufig falschen Signalen seitens des Marktes beruht. Anhaltende Überkapazitäten und sinkende Profite signalisieren den Unternehmen die Überakkumulation und fordern strategisches Handeln seitens der Kapitale. Das Problem dabei besteht ­ ähnlich wie von Harrod analysiert ­darin, daß die kapitalimmanent logische Reaktion der Unternehmen längerfristig die strukturelle Überakkumulation verschärft. Die Zyklendurchschnittliche Einschränkung der Realkapitalakkumulation, insbesondere die Reduzierung der Erweiterungsinvestitionen und die neuen, Produktionskapazitäten vernichtenden Zentralisationsstrategien bremsen zwar den Fall der Profitrate, bewirken aber eine weitere zyklendurchschnittfiche Senkung der Akkumulationsrate.

Die Einschränkung der Realkapitalakkumulation ­ deutlich abzulesen an der gesunkenen Investitionsquote ­ bei Zunahme des Anteils der Rationalisierungsinvestitionen bedeutet, daß das zyklendurchschnittliche Wachstum der Arbeitsproduktivität über dem Wachstum des Sozialprodukts liegt. Eine solche Konstellation muß zu einer überzyklischen Entlassung von Arbeitskräften führen.

Längerfristig abnehmende Beschäftigung heißt, wenn die Umstände sonst gleich bleiben, abnehmende Nachfrage nach Konsumtionsmitteln und damit Kontraktion der Konsummittelproduktion. Damit fällt nicht nur Nachfrage nach Investitionsgütern, sondern zusätzlich effektive Nachfrage nach Konsumgütern aus. Wird dieser akkumulationsbedingte Ausfall an effektiver Nachfrage nicht durch staatliche Aktivität oder zunehmende Nachfrage aus dem Ausland (Exportüberschuß) kompensiert, führt dies zu weiterer Reduzierung der Investitionsgüternachfrage. Es entwickelt sich ein circulus vitiosus mit zunehmender Arbeitsplatzvernichtung.

Die zyklische Kapitalakkumulation wie die Kapitalentwertung ist eine endogene Bewegung des Auf­ und Abbaus von Disproportionen. Die Analyse der längerfristigen Akkumulationsbewegungen zeigt keine vergleichbare, kapitalismusendogene Tendenz zur Beseitigung der wachsenden Disproportionen.

Strukturelle Überakkumulation und gegenläufige Tendenzen

Zyklische Krisen sind nicht gewollt oder bewußt herbeigeführte Störungen des Akkumulationsprozesses, sondern sich zwangsläufig ergebende Friktionen, ungeachtet der Tatsache, daß zumindestens Teile des Kapitals Krisen als notwendiges Übel ansehen. Das zeigen die Diskussionen um die Konzepte von Keynes bereits seit den 30er Jahren und vor allem die Debatten um Deregulierung seit den 70er Jahren. Vollbeschäftigung und sichere Arbeitsplätze sind für das Kapital keine erstrebenswerten Ziele, denn Vollbeschäftigung heißt für die Unternehmen Lohnsteigerungen, da hier sowohl die Verhandlungsmacht des einzelnen Arbeitnehmers wie insbesondere die Kampfkraft der Gewerkschaften wesentlich stärker ist, als bei hoher Arbeitslosigkeit. Fehlende industrielle Reservearmee bedeutet zudem für die Unternehmen, daß sie weniger flexibel auf die für kapitalistische Systeme typischen Wechsel der Nachfrage reagieren können. Kalecki hat bereits in den vierziger Jahren von einem "politischen Konjunkturzyklus" gesprochen und den Widerstand der Unternehmer gegenüber aktiver Beschäftigungspolitik auf drei Ebenen systematisch analysiert: "Die 'Führer der Wirtschaft' widersetzen sich einer Vollbeschäftigung, die der Staat durch seine Ausgaben erzeugt. Die Gründe lassen sich in drei Gruppen einteilen:

  • Das Unbehagen an der Einmischung des Staates in das Beschäftigungsproblem an sich.
  • Das Unbehagen am Verwendungszweck der Staatsausgaben (öffentliche Investitionen und Subventionierung des privaten Konsums).
  • Das Unbehagen an den sozialen und politischen Veränderungen, die eintreten, wenn Vollbeschäftigung zum Dauerzustand wird."(9)

Strukturelle Überakkumulation bahnt sich an, ist für die Kapitale auf der Ebene der Symptome erkennbar und muß deshalb ­ wie gezeigt ­ nicht hingenommen werden, zumal sie keine Disproportionen beseitigt, sondern längerfristig den Bestand der kapitalistischen Systeme gefährdet. Es entspricht deshalb der Logik des Kapitals, daß viele "erfolgreiche" Versuche unternommen worden sind, den Fall der Profitrate abzubremsen.

Mit der zunehmenden Geldkapitalbildung und den daraus erzielten Zins- und Spekulationserträgen konnten in den letzten Jahren die sinkenden Erträge beziehungsweise Verluste im Produktionsbereich auf Kosten der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte vielfach kompensiert werden.

Besonders erfolgreich im Sinne des Kapitals war die Stabilisierung der Profitraten durch rigorose Umverteilung des Volkseinkommens zu Lasten der abhängig Beschäftigten.(10) Lohnsteigerungen unter dem Produktivitätszuwachs und der Abbau von Sozialstaatlichkeit haben in den 80er Jahren zu einer deutlichen Erholung der Profitraten geführt, ohne die Akkumulationsraten zu erhöhen.

Weitere Maßnahmen zur Stabilisierung der Profite waren und sind:

  • die Verlagerung von Werkbankproduktion in Billiglohnländer;
  • verstärkte Ausplünderung der Dritten Welt;
  • Externalisierung von Kosten zu Lasten der Umwelt;
  • zunehmende Inanspruchnahme des Staates durch Subventionen.

Diese Gegenstrategien, die in den 80er Jahren den Fall der Profitrate nicht nur stoppen konnten, sondern sogar einen Anstieg der Profite zur Folge hatten, haben eins gemeinsam:

Sie stabilisieren den Profit der Kapitale auf Kosten der Gesellschaft und der Natur und damit auf Kosten der längerfristigen Entwicklung.

Die strukturelle Überakkumulation erfordert es, die genannten, kompensierenden Umverteilungsmaßnahmen zu forcieren. Daraus folgt nicht die "große" Krise, sondern eine zunehmende Irrationalität der kapitalistischen Systeme.

Ablenkung von den Ursachen

Die seit Mitte der 70er Jahre ansteigende Massen­ und Langzeitarbeitslosigkeit ist weder Schicksal oder ein "Betriebsunfall" noch Folge politischer Fehler. Sie ist weder mit der technologischen Entwicklung noch mit überzogenen Ansprüchen an den Sozialstaat oder einer ökologischen Umorientierung zu erklären.

Die technische Entwicklung ­ gemessen an dem Wachstum der Arbeitsproduktivität ­ weist in den 80er und 90er Jahren in der EU und insbesondere in Deutschland deutlich geringere Zuwachsraten als in Zeiten der Vollbeschäftigung in den 50er und 60er Jahren auf. Im Unterschied zu der Periode bis 1975 liegen die relativ niedrigen Produktivitätszuwächse allerdings über den Wachstumsraten des Sozialproduktes. Das heißt, die Arbeitslosigkeit ist nicht technologisch, sondern wachstumsbedingt.

Sie ist auch nicht mit überzogenen Ansprüchen der abhängig Beschäftigten oder der Gewerkschaften zu erklären ­ wie Kohl mit seiner mehr als zynischen Bemerkung vom Freizeitpark Deutschland zu suggerieren versucht. In den 80er Jahren sind die Löhne in Westdeutschland langsamer als die Produktivität gestiegen. Das hat zur Folge, daß es eine starke Umverteilung von den Arbeits zu den Kapitaleinkommen gegeben hat." Die Lohnstückkosten ­ auf DM­Basis ­ sind seit Anfang der 80er Jahre mit nur 2,6 Prozent im Vergleich zu allen OECD­Ländern unterdurchschnittlich gestiegen. Wie das ifo­Institut feststellt, kann "bei diesem moderaten Anstieg ... von einem hausgemachten Kostendruck also keine Rede sein."(12)

Von der Industrie und neuerdings auch von dem Bundeswirtschaftsminister wird schließlich behauptet, die gegenwärtige Krise und damit die Lage auf dem Arbeitsmarkt sei durch überzogene ökologische Forderungen bedingt. Vergleicht man die geringen Fortschritte beim ökologischen Umbau mit dem, was inzwischen in anderen Ländern getan wurde und mit dem, was notwendig ist, um die selbstzerstörerischen Mechanismen der modernen Industriegesellschaften aufzuhalten, diskreditiert sich dieses Argument durch sich selbst.

Es bleibt: Die gegenwärtige Entwicklung, die insbesondere durch zunehmende Langzeit­ und Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, beruht auf einem Strukturbruch in der längerfristigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß dieser Trend in übersehbarer Zukunft aus sich heraus abbricht.

Die Krise des Regulierungssystems

Der gegenwärtige Stand und die zu erwartende Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist keine unabwendbare Naturkatastrophe, sie ist vielmehr Folge des bestehenden Regulierungssystems.

Unbestreitbar ist das "Humankapital", die lebendige Arbeit, die wertvollste Ressource jeder Gesellschaft. Unbestreitbar gibt es in der Welt viel zu tun. Die Beseitigung von Umweltschäden, die Umstellung auf umweltschonende Energie­, Verkehrs­ und Abfallsysteme, die Sanierung der Städte, die Versorgung mit Wohnungen und mit sozialer Infrastruktur sind Beispiele für dringende Aufgaben, die viel Arbeit erfordern. Auf der anderen Seite gibt es Frauen und Männer, von denen die Mehrheit arbeiten kann und arbeiten will, die aber durch die Steuerungsmechanismen der kapitalistischen Systeme daran gehindert werden, ihre Kräfte für eine bessere Versorgung der Gesellschaft einzusetzen. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit angesichts der Fülle zu bewältigender Aufgaben ist nur ein ­ wenn auch besonders bedrückendes ­ Beispiel der Regulationskrise, die die liberalistischen Gleichgewichts­ und Optimierungsillusionen der herrschenden Lehre ad absurdum geführt haben. Die gegenwärtigen kapitalistischen Regulierungsmechanismen hemmen beziehungsweise pervertieren die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Sie zeigen, daß die kapitalistischen Systeme an ihre historische Schranke gestoßen sind.

Quellen:

1 International Labour Organization, World Employment 1995, Genf 1995.

2 Siehe Lester C. Thurow, Die Zukunft des Kapitalismus, Düsseldorf/München 1996, S. 243.

3 Siehe Hans­Peter Martin/Harald Schumann, Die Globalisierungsfalle, Reinbek 1997, S. 12ff.

4 Die Entwicklung von 1988 bis 1992 war durch zwei Besonderheiten bestimmt: 1987 haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet, bis Ende 1992 den Europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Dieser Beschluß hat 1987 ein "Gründungsfieber", ähnlich wie nach 1871/72, ausgelöst. Durch die Umwälzungen in Osteuropa hat es im Westen der Bundesrepublik einen die längerfristige Entwicklung überlagernden Einigungsboom gegeben.

5 Nach der Krise 1974/75 stagnierte die Kapazitätsauslastung drei Jahre bei rund 80% und erreichte 1979 mit 84,5% ihr Maximum. Im letzten Zyklus lag sie bis 1987 unter 85%, erst dann stieg sie auf Grund des "EU­Gründungsfiebers" und des Vereinigungsbooms auf das in früheren Boomperioden zu beobachtende Niveau.

6 Das 1989 bis 1992 zu beobachtende Ansteigen der Profitrate ist eine nicht zu der Trendaussage im Widerspruch stehende zyklische Bewegung. Außerdem ist bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen, daß die Steigerung der Gewinne insbesondere auf den Steuerentlastungen und der Umverteilung zu Lasten der Löhne beruht.

7 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften geht in ihrer Studie über Beschäftigung in Europa davon aus, daß rund 20 Mio. Menschen arbeitslos sind und daß die Arbeitslosigkeit ohne massive wirtschaftspolitische Maßnahmen nach Überwindung der gegenwärtigen konjunkturellen Krise weiter ansteigen wird. Vgl. Commission of the European Communities (1993), Employtment in Europe 1993, Brussels/Luxembourg.

8 Die relativ schwachen konjunkturellen Aufschwünge seit Mitte der 70er Jahre beruhten auf der auch in den Aufschwungsphasen anhaltenden Unterauslastung der Kapazitäten. Eine Ausnahme bildete der exogene Einfluß in der Phase der Vereinigung.

9 Michael Kalecki, Politische Aspekte der Vollbeschäftigung, in: M. Kalecki, Krise und Prosperität im Kapitalismus, Marburg 1987, S. 235f.

10 Die Arbeitseinkommensquote wird im Jahr 1997 für Westdeutschland auf das Niveau vom Anfang der 60er Jahre sinken. Vgl. DIW­Wochenbericht 1­2/97, S. 16.

11 Nur 1992 steigen die Löhne schneller als die Produktivität, das klassische Muster jedes konjunkturellen Abschwunges.

12 ifo­Institut, ifo­Wirtschaftskonjunktur 7/93, S. A 18.

Editoriale Anmerkung:
Der Text ist eine Spiegelung von
http://home.t-online.de/home/ralph.netzker/kisker97.htm 
Er wurde erstveröffentlicht bei
  Z. Nr. 31, September 1997