Vorwort zur deutschen Ausgabe
In diesem Buch versuche ich die zentralen Kategorien der Marxschen Kritik
der politischen Ökonomie auf der grundlegendsten Ebene zu reformulieren,
um die Grundlage für eine radikal-kritische begriffliche Neubestimmung des
Wesens der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft zu schaffen. Der
traditionelle Marxismus – der die Distributionsformen (zum Beispiel den
Markt
und das Privateigentum an Produktionsmitteln) vom Standpunkt der Arbeit und
der Produktion aus kritisiert – hat sich historisch als inadäquate
Kapitalismuskritik
erwiesen. Eine adäquate Kritik dagegen kann sich nicht auf die in den modernen
Gesellschaften zum Ausdruck kommenden Formen von Ausbeutung und Herrschaft
beschränken, sondern muß eine Kritik der Modernität selbst sein. Wobei unter
Modernität die gesellschaftliche Form zu verstehen ist, die durch
quasi-objektive
Formen von Herrschaft (Ware, Kapital) charakterisiert ist und die eine ihr
inhärente historische Dynamik in Gang setzt, welche auch die Möglichkeit
für eine neue, emanzipierte Form gesellschaftlichen Lebens hervorbringt.
Der vorliegende Versuch, das kapitalistische Wesen neu zu bestimmen, wurde
nicht zuletzt durch den epochalen Wandel des Kapitalismus im letzten Drittel
des 20. Jahrhunderts motiviert. Diese epochale Transformation, die heute
in ihren Auswirkungen noch viel spürbarer geworden ist, macht deutlich, daß
der Kapitalismus nicht in der Begrifflichkeit einer seiner epochalen
Konfigurationen
– wie dem liberalen Kapitalismus des 19. oder dem staatszentrierten
›fordistischen‹
Kapitalismus des 20. Jahrhunderts – hinreichend erfaßt werden kann. Die
traditionelle
marxistische Kapitalismuskritik vom Standpunkt der Arbeit ist nur plausibel,
soweit sie sich auf den liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bezieht.
Sie ist jedoch auf grundsätzliche Weise inadäquat als kritische Theorie der
staatszentrierten ›fordistischen‹ Konfiguration, die einen großen
Teil des
20. Jahrhunderts geprägt hat und zu der auch die sowjetische Organisation
der Gesellschaft gezählt werden muß. Einige Varianten des traditionellen
Marxismus dienten sogar als Legitimationsideologien für genau diese epochale
Konfiguration des Kapitalismus. In dieser Weise haben Kritiken des fordistischen
Regimes im 20. Jahrhundert, etwa die des bürokratischen Disziplinarstaats,
häufig diese Konfiguration hypostasiert und enthistorisiert. Mit der Fixierung
ihres kritischen Blicks auf etwas, das sich als vorübergehende Konfigurationen
des Kapitalismus herausstellte, sind poststrukturalistische Ansätze in ein
neues, neoliberales gesellschaftliches Universum zurückgefallen, mit dem
sie sich nur noch unzureichend auseinandersetzen können.
Die völlige Unzulänglichkeit von Theorien des modernen Kapitalismus, die
eine spezifisch-historische Konfiguration des Kapitalismus für das Wesen
der gesellschaftlichen Formation halten (den freien Markt oder den
bürokratischen
Disziplinarstaat) ist historisch schließlich manifest geworden mit dem Aufstieg
der staatszentrierten ›Synthesis‹ des 20. Jahrhunderts, ihr späteres
Scheitern
und der Durchsetzung des neoliberalen globalen Kapitalismus. Aus dieser
Perspektive
markiert der Kollaps des Sowjet-Kommunismus 1989–1991 nicht das Ende des
sozialistischen Projekts, sondern die Kulmination eines Niedergangsprozesses
des Fordismus, der in den frühen 1970er Jahren begann und ihn mittlerweile
an seine definitiven Grenzen stoßen ließ. Damit jedoch ist keinesfalls der
Schlußpunkt grundsätzlicher Kapitalismuskritik gesetzt – vielmehr wird
nach
dem Ende des Fordismus die Notwendigkeit einer solchen Kritik nur um so
dringlicher.
Die in dieser Studie vorgenommene begriffliche Neubestimmung versteht sich
als Beitrag für die Formulierung einer adäquaten Kapitalismuskritik. In dieser
Absicht soll sie die Grundlage für ein Verständnis des Kapitalismus schaffen,
das nicht auf eine der Epochen dieser gesellschaftlichen Formation beschränkt
bleibt. Ein solches Verständnis des Kapitalismus, das sich nur auf einem
sehr hohen Abstraktionsniveau erzielen läßt, kann das Wesen epochaler Umbrüche
im Kapitalismus klären.
Damit eröffnet sich die Möglichkeit
für eine Theorie, die historisch auf die sozialen Bewegungen der letzten
Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reflektieren kann, deren Forderungen und
zum Ausdruck gebrachte Bedürfnisse nur wenig mit dem Kapitalismus, wie er
traditionell verstanden wurde, zu tun haben. Eine nicht an eine der epochalen
Konfiguration gebundene, adäquate Theorie des Kapitalismus sollte in der
Lage sein, sich auf diese Bewegungen zu beziehen und deren Auftreten sowie
den Charakter der in ihnen ausgedrückten Subjektivitätsformen historisch
zu erklären. Daß traditionelle marxistische Interpretationen diese Bewegungen
nicht adäquat begreifen können, hat zum Aufkommen neuer Gesellschafts- und
Kulturtheorien beigetragen, die, weil sie den Kapitalismus als
Untersuchungsgegenstand
ausklammern, historisch, gesellschaftlich und kulturell deskriptiv bleiben
und weder historische Tiefe noch analytische Kraft besitzen.
Rückblickend ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts offensichtlich, daß die
soziale, politische, ökonomische und kulturelle Konfiguration der Hegemonie
des Kapitals historische Veränderungen durchlaufen hat – vom
Merkantilismus
über den liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und den staatszentrierten
Kapitalismus bis zum gegenwärtigen neoliberalen globalen Kapitalismus. Jede
dieser Konfigurationen wurde scharfer Kritik unterzogen – beispielsweise
einer Kritik der Ausbeutung und des ungleich verteilten Wachstums oder der
technokratischen, bürokratischen Formen von Herrschaft. All diese Kritiken
sind jedoch unvollständig. Wie wir jetzt sehen, geht Kapitalismus in keiner
dieser Konfigurationen auf. Vielmehr beschreibt, so die Argumentation dieser
Untersuchung, die Kategorie des Kapitals einen historisch-dynamischen Prozeß,
mit dem unterschiedliche historische Konfigurationen verbunden sind.
Dieser dynamische Prozeß ist ein wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft.
Er sorgt für eine fortwährende Transformation des gesellschaftlichen und
kulturellen Lebens ebenso wie er die Grundlage der herrschenden Ordnung
unablässig
rekonstituiert. Diese dialektische Dynamik läßt sich mit der Bezugnahme auf
den Staat oder die Zivilgesellschaft nicht begreifen. Vielmehr existiert
sie ›hinter‹ diesen und dadurch erweist sich die Dichotomie zwischen
Staat
und Zivilgesellschaft als Oberflächenphänomen. Diese Dynamik ist im Kern
einer historisch-spezifischen Form von Heteronomie angelegt, die wirkliche
Selbstbestimmung nicht zuläßt – eine Form historisch bestimmter Logik, die
als vermeintlich allgemeingültige ›Logik der Geschichte‹ in die
gesamte bisherige
gesellschaftliche Entwicklung rückprojiziert worden ist. Diese Dynamik muß
begriffen werden, will die kritische Theorie des Kapitalismus ihrem Gegenstand
adäquat sein.
Die in dieser Untersuchung vorgelegte Neuinterpretation
versucht die Grundlage für eine kritische Theorie des Kapitalismus zu schaffen,
die als Ausgangspunkt dienen kann, die epochalen Umbrüche im Kapitalismus
ebenso zu analysieren wie die historisch sich verändernden Subjektivitätsformen,
die in bestimmten historischen sozialen Bewegungen ihren Ausdruck finden.
Dieser Text konzentriert sich allerdings darauf, den inneren Kern des
Kapitalismus
als eine einzigartige dynamische gesellschaftliche Formation herauszuarbeiten,
indem er die grundlegenden Marxschen Kategorien der Ware und des Kapitals
auf völlig andere Weise als die traditionellen marxistischen Interpretationen
reformuliert. Dabei ging es mir vor allem darum, den nicht-ontologischen,
historisch-spezifischen Charakter der Basiskategorien hervorzuheben und zugleich
die Aufmerksamkeit auf ihre transhistorische, verdinglichte Erscheinungsform
zu lenken. Diese Spannung zwischen einem nicht-ontologischen ›Wesen‹
und
seiner scheinbar ontologischen Erscheinungsform zieht sich als roter Faden
durch die gesamte Untersuchung, weshalb notwendigerweise häufig auf sie
verwiesen
wird. Dies ist insofern besonders wichtig, als viele Ansätze, die sich mit
den derzeitigen Prozessen globaler Transformation auseinandersetzen, auf
verdinglichten Vorstellungen etwa von Technologie, Arbeits- und
Zirkulationsprozessen
basieren. Eine adäquate kritische Theorie der Gegenwart muß auf einem
nicht-verdinglichten
Begriff der Beziehungen, die das Wesen des Kapitalismus ausmachen, und der
Unterschiede zwischen diesem Wesen und den wechselnden historischen
Konfigurationen
des Kapitalismus begründet werden.
Die Übersetzung dieses
Buches ins Deutsche wäre ohne das große Engagement, den Einsatz und die harte
Arbeit von Freunden und Kollegen nicht möglich gewesen. Für die Unterstützung
durch das Kolleg der Universität Chicago möchte ich mich ebenso bedanken
wie bei Hanns von Bosse, Fritz-Martin Breyer, Joachim Bruhn, Martin Janz,
Fred Kiefer, Willy Krüger, Andreas Kühnl und Bernd Weber. Vor allem bin ich
Manfred Dahlmann, Petra Haarmann, Wolfgang Kukulies, Christoph Seidler und
Norbert Trenkle dankbar für die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, mit der
dieses Buch übersetzt wurde.
Chicago, im August 2003