aus: Aufsätze zur Diskussion, Nr. 34, Dezember 1985, Ffm 1985
Unterkonsumtion und allgemeine Krise des Kapitalismus
II. Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie
Fortsetzung von Teil Ivon Klaus Winter
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Das "Problem" der Akkumulation und seine "Lösung" In einer umfangreichen Antwort auf ihre Kritiker wies Rosa Luxemburg darauf hin, daß ihre Akkumulationstheorie auf "Grundsätzen" beruht, die Kautsky schon 1902 im Zusammenhang mit der seines Erachtens "allgemein von den orthodoxen Marxisten" angenommenen Krisentheorie genannt hatte: "I. daß Kapitalisten und Arbeiter allein für die Akkumulation keinen ausreichenden Markt darstellen; 2. daß die kapitalistische Akkumulation eines 'zusätzlichen Marktes' in nichtkapitalistischen Schichten und Nationen bedürfe."(21)
Ihre gründliche Kenntnis der Darstellung, die Marx im zweiten Band des "Kapitals" vom gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß gegeben hatte, bewahrte sie vor jeglicher Nähe zu dem Dogma von A. Smith; das raschere Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsum-tionsmitteln war für sie eine unbestreitbare Tatsache.(22) Deshalb teilte sie nicht die vage und fehlerhafte Auffassung, die Kautsky zu den von ihr hervorgehobenen Grundsätzen geführt hatte; aber aus demselben Grund mußte sie sich mit der Frage befassen, ob ihre Auffassung von der Realisierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts mit der Untersuchung von Marx in Einklang zu bringen sei - eine Frage, die Kautsky nicht behandelt hatte.(23)
Es war also - auch ganz abgesehen von dem Problem der Krisenerklärung(24) - "die Grundfrage des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion vom Standpunkt des Reproduktionsprozesses"(25) zu klären. Denn wie kann die Akkumulation in einer aus Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft stattfinden, wenn einerseits die Erweiterung der Produktion durch eine Einschränkung der Konsumtion erkauft wird, während sie andererseits auf einer gestiegenen Nachfrage beruhen muß? "Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt?"(26) Den Hintergrund dieser Frage bildet Rosa Luxemburgs Auffassung» daß die Kapitalisten "gerade durch die Annahme der Akkumulation Nichtabnehmer ihres Mehrwerts"(27) sind.
Unter der Voraussetzung der Akkumulation sind die Kapitalisten in der Tat Nichtabnehmer eines Mehrwerts, der als vollständig aus Genußmitteln bestehend aufgefaßt wird und zu diesem Zweck des Konsums produziert wurde. Die Akkumulation zeigt vielmehr, daß sie Abnehmer eines Mehrwerts sind, der nur zum Teil aus Konsumt ionsmitteln bestehen kann und in der Hauptsache der Verwandlung in zusatzliches Kapital dient. Daß aber die Kapitalisten nur dann mit dem unter ihrem Kommando produzierten Mehrwert etwas anfangen könnten, wenn er aus Konsumtionsmitteln besteht, weist wiederum auf dieselbe fehlerhafte Auffassung der kapitalistischen Produktionsweise hin, die Kauts-ky formuliert hatte. Danach war der menschliche Konsum bestimmend für die kapitalistische Produktion, erschien folglich die Mehrwertproduktion als eine Produktion für den Genuß der Kapitalistenklasse und daher die Akkumulation als Verzicht auf Konsumtionsmittel.(28)
Daß die Kapitalisten sich untereinander die zur Erweiterung der Produktion bestimmten Produktionsmittel abkaufen, ist daher für Rosa Luxemburg keine Antwort auf die Frage, woher die zusätzliche Nachfrage für die Erweiterung der Produktion kommt, "denn schließlich haben die B, B', B' ' (die Käufer zusätzlicher Produktionsmittel; d.V.) ... wohl nicht deshalb auf einen Teil der Konsumtion verzichtet und ihre Produktion erweitert, um nachher ihr vermehrtes Produkt - nämlich Produktionsmittel - einander abzukaufen.(29) Wenn man den Kapitalismus als eine auf größtmögliche Aneignung von Mehrwert gerichtete Produktionsweise versteht, dann versteht es sich von selbst. daß der angeeignete Mehrwert seinerseits wieder zur Produktion von noch größeren Mehrwertmassen verwendet wird und daß die Nachfrage nach zusätzlichen Produktionsmitteln gerade dem maßlosen Bereicherungstrieb der Kapitalisten entspringt. Aber an dieser Antwort geht Rosa Luxemburg vorbei. Unter der Annahme, daß die Kapitalisten nur für den Teil des Mehrwerts, der aus Konsumtionsmitteln besteht, Abnehmer sind, kommt sie zu dem Ergebnis:
"Damit ist aber auch ausgeschlossen, daß die Arbeiter und die Kapitalisten selbst das Gesamtprodukt realisieren können. Sie können stets nur das variable Kapital, den verbrauchten Teil des konstanten Kapitals und den konsumierten Teil des Hehrwerts selbst realisieren, auf diese Weise aber nur die Bedingungen für die Erneuerung der Produktion in früherem Umfang sichern. Der zu kapitalisierende Teil des Mehrwerts hingegen kann unmöglich von den Arbeitern und Kapitalisten selbst realisiert werden. Die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ist also in einer Gesellschaft, die nur aus Arbeitern und Kapitalisten besteht, eine unlösbare Aufgabe." Lösbar wird diese Aufgabe nur auf dem Boden vorkapitalistischer Produktionsweisen: Die Realisierung des Mehrwerts "ist von vornherein an nichtkapitalistische Produzenten und Konsumenten als solche gebunden. Die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts ist also direkt Lebensbedingung für das Kapital und seine Akkumulation, insofern also der entscheidende Punkt im Problem der Kapitalakkumulation."(31)
Damit hat Rosa Luxemburg 'in hinreichender Klarheit herausgearbeitet, daß
"genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung" Kautskys(32) mit der Marxschen Darstellung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses der Akkumulation nicht in Einklang zu bringen ist. "Das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion entspricht somit nicht den Bedingungen der Akkumulation, solange diese fortschreitet; sie läßt sich nicht in die festen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen den beiden großen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion (Abteilung der Produktionsmittel und Abteilung der Konsumtionsmittel) bannen. die das Schema formuliert."(33)Ausgehend von der Konsumtion als Maß der kapitalistischen Produktion erschien die Akkumulation als Verzicht auf den Konsum des ganzen Mehrwerts, und erzeugte ein Mißverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Produkt und dem Umfang der Konsumtion, machte Arbeiter und Kapitalisten zu "nichtausreichenden Konsumentenklassen".(34) Die eingeschränkte Konsumtionsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft - eingeschränkt gerade um den Teil des Mehrwerts, der in Kapital zu verwandeln war - band das Kapital an die Existenz nichtkapitalistischer Produktionsweisen als seine direkte Lebensbedingung.
Die Unmöglichkeit der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise
Rosa Luxemburg kam daher zu dem Ergebnis, die kapitalistische Produktionsweise sei "die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag".(35) Gleichzeitig konnte das Kapital diese ihm vorausgehenden, von ihm unabhängigen Bedingungen seiner Existenz nicht selbst erzeugen. Es fand zwar zusätzliche Abnehmer für die Erweiterung der Produktion, aber dazu mußten diese in den Kreis der Warenzirkulation einbezogen werden. Ihr nichtkapitalistischer Charakter entsprach insofern dem Bedürfnis der kapitalistischen Akkumulation durchaus nicht. Rosa Luxemburg hat es breit illustriert, wie die Ausdehnung der kapitalistischen Produktion, die einerseits nur auf dem Boden vorkapitalistischer Produktionsweisen möglich sein sollte, sich andererseits nur durch Zerstörung der Naturalwirtschaft, Einführung der Warenproduktion, Verdrängung der einfachen Warenproduzenten und Verwandlung der Bauern und Handwerker in kapitalistische Produzenten (Lohnarbeiter oder Kapitalisten) vollzog.
Neben der Rolle, die die vorkapitalistischen Produktionsformen als Vorrat für die Ausdehnung des Marktes spielten, wies Rosa Luxemburg auf die Bedeutung hin, die ihnen als Reservoir zusätzlicher Arbeitskräfte für die kapitalistische Akkumulation zukam. Daß sich das Kapital die verfügbaren Arbeitskräfte im Prozeß der Akkumulation durch Bildung der industriellen Reservearmee und Vermehrung der Bevölkerung(36) selbst schafft, schien ihr nicht einleuchtend. Ihrer Meinung nach war die Akkumulation nur insofern möglich, als die zusätzlich benötigten Arbeitskräfte aus den nichtkapitalistischen Schichten und Ländern bezogen werden konnten. "Die industrielle Reservearmee kann nämlich durch die natürliche Fortpflanzung des kapitalistischen Lohnproletariats nicht gebildet werden. Sie muß andere soziale Reservoirs haben, aus denen ihr die Arbeitskraft zufließt - Arbeitskraft, die bis dahin noch nicht unter dem Kommando des Kapitals stand und erst nach Bedarf dem Lohnproletariat zugefügt wird. Diese zuschüssigen Arbeitskräfte kann die kapitalistische Produktion nur aus nichtkapitalistischen Schichten und Ländern ständig beziehen."(37) Diese zusätzlichen Arbeitskräfte, die die kapitalistische Akkumulation benötigte, waren "Ausscheidungsprodukt nicht der kapitalistischen, sondern vorkapitalistischer Produktionsweisen in dem fortschreitenden Prozeß ihres Zusammenbruchs und ihrer Auflösung".(38)
Die Akkumulation des Kapitals setzte also gerade deshalb die Existenz nichtkapitalistischer Produzenten voraus, weil sie von deren Untergang lebte. "Wenn der Kapitalismus also von nichtkapitalistischen Formationen lebt, so lebt er, genauer gesprochen, von dem Ruin dieser Formationen, und wenn er des nichtkapitalistischen Milieus zur Akkumulation unbedingt bedarf, so braucht er es als Nährboden, auf dessen Kosten, durch dessen Aufsaugung die Akkumulation sich vollzieht.(39) Das Endergebnis dieses Lebenswegs des Kapitals konnte daher nur jene aus zwei "unzureichenden Konsumentenklassen" bestehende Gesellschaft sein, in der die Akkumulation wirklich unmöglich werden mußte, weil sie auf der Basis der beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft - Rosa Luxemburg zufolge - von vornherein unmöglich war.
Es ist zwar richtig, daß die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise durch ihr in der Geschichte vorausgehende Produktionsweisen bedingt ist und deren Auflösung - eine ursprüngliche Akkumulation - voraussetzt; ist aber auf diese Weise die kapitalistische Produktionsweise einmal entstanden, dann gründet sich die Entwicklung der kapitalistischen Produktion auf das Kapital und seine inneren Gesetze. Die historischen Bedingungen für die Entstehung des Kapitals haben ihr Resultat bewirkt und gehören der Vergangenheit an, sind aber keine notwendige Voraussetzung für seine Weiterentwicklung.(40) Die Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehns des Kapitals unterstellen eben, daß es noch nicht ist. sondern erst wird; sie verschwinden also mit dem wirklichen Kapital, mit dem Kapital, das selbst, von seiner Wirklichkeit ausgehend, die Bedingungen seiner Verwirklichung setzt."(41) So war der Welthandel Ausgangspunkt und Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die in ihrer Anfangsphase wesentlich von seiner Erweiterung beeinflußt wurde. Aber einmal entstanden, trieb die kapitalistische Produktion selbst zur Ausdehnung des Weltmarkts, wurde der Handel und seine Ausbreitung von der Entwicklung der Industrie abhängig und von ihr revolutioniert. Das Kapital "geht nicht mehr von Voraussetzungen aus, um es zu werden, sondern ist selbst vorausgesetzt, und von sich ausgehend, schafft es die Voraussetzungen seiner Erhaltung und Wachstums selbst".(42)
Weil die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf dem Kapital selbst und seinen immanenten Gesetzen beruht und aus ihnen zu erklären ist, hatte Marx im "Kapital"' von den nichtkapitalistischen Formen der Produktion - abgesehen von der Darstellung der ursprünglichen Akkumulation - abstrahiert. "Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumstanden aufzufassen, müssen wir hier ... voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige„ bemächtigt hat."(43) Daran anknüpfend, erschien Rosa Luxemburg der gesamte
Gang der kapitalistischen Produktionsweise als Verwirklichung dieses Kapitalismus "in seiner Reinheit", als eine Annäherung, die in der Wirklichkeit das durchfuhrt, was Marx durch Abstraktion vorweggenommen hatte. "Die Marxsche Voraussetzung ist nicht eine phantastische Absurdität, sondern eine wissenschaftliche Fiktion. Marx nimmt nämlich die wirkliche Tendenz der kapitalistischen Entwicklung vorweg.(44) Aber diese Tendenz hatte für Rosa Luxemburg einen ganz anderen Inhalt als für Marx. Die Akkumulation des gesellschaftlichen Kapitals in ihrer Reinheit - ohne Hinzuziehung nichtkapitalistischer Produzenten - darzustellen, hielt sie für "irreführend"(45). Denn Marx hatte erläutert, daß und wie die Akkumulation auf der Basis des Kapitals funktioniert , während sie erklärt, daß auf dieser Grundlage die Akkumulation nicht funktionieren kann. Die Annäherung der Entwicklung des Kapitalismus an seine ausschließliche Herrschaft, die Annäherung an den "Gegenstand in seiner Reinheit", war deshalb für sie gleichbedeutend mit wachsender Unfähigkeit des Kapitals, den zu kapitalisierenden Teil des Mehrwerts zu realisieren. Mit dem Verschwinden der nichtkapitalistischen Schichten mußte sich immer deutlicher zeigen, daß Arbeiter und Kapitalisten "unzureichende Konsumentenklassen" sind.weiterwird fortgesetzt mit Teil III "Eugen Vargas Verständnis der Marxschen Krisentheorie"