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24.01.2003
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Helmut Peters |
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Bereits Sozialismus? |
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China – quo vadis? Öffnungspolitik, Wirtschaftsboom, gesellschaftlicher Fortschritt – China ist heute eine ökonomische Großmacht. Doch wohin die Reise geht, ist völlig offen. Teil I: Der Transformationsprozeß |
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* Konträre Einschätzungen der chinesischen Entwicklung unter linken Sozialisten lassen sich häufig auf eine wesentliche Ursache zurückführen: Die konkreten Gegebenheiten und Entwicklungen des Landes werden unzureichend berücksichtigt. Helmut Peters versucht, »die Wahrheit in den Fakten zu suchen«, »shi shi qiu shi«, wie man in China sagt. Auf der Grundlage offizieller Daten, so des am 8. November 2002 erstatteten Berichts des Zentralkomitees an den 16. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, wissenschaftlicher Untersuchungen und der chinesischen Tages- und Fachpresse untersucht er in einer dreiteiligen jW-Serie die sozialökonomische und politische Entwicklung der Volksrepublik. Prof. Dr. Peters ist Sinologe, war u.a. von 1963 bis 1968 an der DDR-Botschaft in Peking tätig, zuletzt als 1. Sekretär, und anschließend bis 1990 Leiter des Forschungsbereichs China an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED.
Gleich, unter welchem Gesichtspunkt wir die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft seit Ende der 70er Jahre betrachten: Infolge der Reform- und Öffnungspolitik der Kommunistischen Partei (KPCh) hat sich ein enormer gesellschaftlicher Fortschritt vollzogen. Er hat das Land vor allem in seinen östlichen Landesteilen und den größeren Städten grundlegend verändert. In den ländlichen Gegenden weit ab von den Küstengebieten und im Westen des Landes dominiert hingegen weiterhin die alte Agrargesellschaft.
In ihrer Politik muß die KPCh deshalb nicht nur die Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte in Rechnung stellen, sondern auch die Nachwirkungen von Gegebenheiten aus der vorrevolutionären Gesellschaft. So wird die Industrialisierung des Landes nach Einschätzung des 16. Parteitages der KPCh im November 2002 frühestens in zwei Jahrzehnten abgeschlossen sein. Die Landwirtschaft wird dagegen nach wie vor in kleinbäuerlichen Familienbetrieben hauptsächlich manuell betrieben. Hier ist immerhin noch etwa die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung des Landes beschäftigt, und die Warenwirtschaft hat sich in diesem Wirtschaftszweig noch nicht durchgesetzt. Der Urbanisierungsgrad der Gesellschaft liegt heute nach offiziellen Angaben erst bei 37-38 Prozent. Der Entwicklungsstand von Wissenschaft, Bildung und Kultur bleibt weiterhin deutlich hinter den Erfordernissen der Modernisierung zurück. Die Kluft in der Entwicklung der einzelnen Landesteile, in Jahrhunderten herausgebildet, hat sich im bisherigen Reformprozeß auf höherem Niveau vertieft. Vor allem in den ökonomisch rückständigen Regionen wirken noch Reste alter, traditioneller Denk- und Verhaltenweisen.
Auf ihrem 15. Parteitag 1997 hatte die KPCh eingeschätzt: In den zurückliegenden Jahrzehnten hätten die Produktivkräfte einen sehr großen Aufschwung genommen, in allen Angelegenheiten wäre ein sehr großer Fortschritt erreicht worden. Dennoch müsse in der Politik weiterhin von den nationalen Gegebenheiten einer zahlreichen Bevölkerung, schwacher Grundlagen für die Modernisierung, ungleichmäßiger regionaler Entwicklung und der Unentwickeltheit der Produktivkräfte ausgegangen werden. Das wäre eigentlich Grund genug, die gesellschaftliche Entwicklung Chinas als einen Transformationsprozeß zu interpretieren.
»Im Anfangsstadium«
Die chinesische KP zog eine grundlegend andere Schlußfolgerung: »Unser Land befindet sich gerade im Anfangsstadium des Sozialismus. Diese Schlußfolgerung bedeutet zweierlei. Erstens, unsere Gesellschaft ist bereits eine sozialistische Gesellschaft. Zweitens, die sozialistische Gesellschaft unseres Landes befindet sich noch im Anfangsstadium.« Dieses »Anfangsstadium« wird erklärt als »der historische Zeitabschnitt, in dem die Unentwickeltheit allmählich überwunden und die sozialistische Modernisierung grundsätzlich verwirklicht wird«.
Hier beginnt für mich die Sache fragwürdig zu werden. Das Kriterium der heutigen KPCh für den Eintritt in diese »sozialistische Gesellschaft« reduziert sich auf den »grundlegenden Abschluß der sozialistischen Umgestaltung«, sprich: die übereilte Verstaatlichung des Eigentums an Produktionsmitteln 1956 unter den Bedingungen einer nach wie vor rückständigen Agrargesellschaft. Offensichtlich spielt das Niveau der Produktivkräfte in diesen theoretischen Überlegungen keinerlei Rolle. Das zeigt auch die Verlagerung der Industrialisierung in die Zeit nach der Übergangsperiode.
Die ursprüngliche Auffassung der KP war, diese Aufgabe unter Nutzung des privatkapitalistischen Sektors in der »neudemokratischen« Entwicklungsetappe zu lösen, also vor Eintritt in die eigentliche Transformation zum Sozialismus. Als die Partei 1953 begann, den sowjetischen Weg der Industrialisierung zu beschreiten, wurden Industrialisierung und »sozialistische Umgestaltung« als die beiden Hauptaufgaben der Übergangsperiode zum Sozialismus bezeichnet. Auf dem 8. Parteitag 1956 hieß es, daß die Übergangsperiode mit der Industrialisierung des Landes und der vollständigen sozialistischen Umgestaltung des Eigentums an Produktionsmitteln in der Landwirtschaft, des Handwerks und des Kapitalismus in Industrie und Handel abgeschlossen sein würde. Diese neue Position wurde dann auf dem 13. Parteitag 1987 abermals revidiert. Die Industrialisierung des Landes gilt nun als Aufgabe einer bereits errichteten sozialistischen Gesellschaft.
Mit dieser theoretischen Position gerät die KPCh in der gesellschaftlichen Praxis in Schwierigkeiten. Mit der Rücknahme der durchgängigen Verstaatlichung des Eigentums an Produktionsmitteln und der Ausbildung vielfältiger Eigentumsformen entstand erneut eine für eine solche Transformationsgesellschaft typische ökonomisch-soziale Struktur. Eigentlich sagt die konkrete Beschreibung des historischen Entwicklungsstandes Chinas auf den Parteitagen 1987 und 1997 nichts anderes aus. Das aber bedeutet: Der Ausgang des Transformationsprozesses in der VR China ist nach vorn offen. Politische Macht in den Händen einer kommunistischen Partei und staatliches Eigentum allein sind noch nicht gleich Sozialismus. Wir beobachten, daß in China – vor allem seit dem direkten Übergang zur Marktwirtschaft 1992 – vermeintliche sozialistische Positionen in der Wirtschaft, in der Sozialstruktur und in den Denk- und Handlungsweisen der großen Masse des Volkes schnell ab- und sogar wegbrechen. Das reale Sein in der Marktwirtschaft hat sich trotz aller Bemühungen der Parteiführung gegenüber dem behaupteten sozialistischen Bewußtsein schnell durchgesetzt. Der gesellschaftliche Status eines Bürgers wird heute in den Zentren von Reform und Öffnung durch sein Einkommen und sein Vermögen bestimmt, mag es die Politik auch anders sehen. Veränderungen dieser Art haben natürlich nicht nur innere Ursachen. Vertreter und Medienanwälte des internationalen Kapitals sind eifrig bemüht, ein China nach ihren Interessen zu schaffen.
»Nachholende« Entwicklung
Die chinesische Entwicklung bestätigt eine weitere Grunderkenntnis: Eine sozialistische Gesellschaft kann nur auf den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit aufgebaut werden, die der Kapitalismus seit der Französischen Revolution hervorgebracht hat. Dazu gehören nicht nur der Fortschritt in der Wirtschaft und von Wissenschaft und Technik oder die Erkenntnis ökologischen Wirtschaftens, sondern auch Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Gewaltenteilung, demokratische Verfaßtheit der Gesellschaft, kommunale Selbstverwaltung, Menschenrechte, allgemeine Volksbildung, soziale Sicherungssysteme für die Bürger, Trennung von Staat und Kirche und dergleichen mehr. Entwicklungsländer wie China haben hier besonders viel »nachzuholen«.
Die KPCh begann im Verlaufe ihrer Reform- und Öffnungspolitik, die zivilisatorischen Fortschritte der Menschheit für das Land zu erschließen. Auf ihrem 14. Parteitag 1992 äußerte sie sich dazu: »Wir sollten alle fortschrittlichen kulturellen Errungenschaften, die in allen Ländern der Welt, einschließlich der kapitalistischen Länder, geschaffen worden sind, aufnehmen und für die Entwicklung des Sozialismus nutzen.« (Renmin Ribao, 21.10.1992) Die KPCh begann nicht nur, eine Marktwirtschaft, sondern auch einen Rechtsstaat zu entwickeln. Und seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre verbindet sie die ökonomische Entwicklung schrittweise mit der Ökologie und mit dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme. In Gestalt von Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie der »Union für die Entwicklung Chinas«, mit der Verbreitung von Anwaltschaften für die Wahrnehmung der Rechte der Bürger oder der Nichtbehinderung von Aktivitäten der Organisation Greenpeace Hongkong auf dem Festland entwickeln sich, wenn auch recht zaghaft, Keime einer Zivilgesellschaft.
Die »nachholende« Entwicklung ist jedoch ein langer, widerspruchsvoller Prozeß, in dem die Partei sich von mancher alten Position trennen muß. Manches ist heute noch umstritten. Anderes wiederum, wie die Gewaltenteilung, wird selbst in der Theorie noch strikt abgelehnt. Beim Studium der Dokumente des 16. Parteitags der KPCh habe ich eine überraschende Entdeckung gemacht. Wenn wir das vielfach gebrauchte Attribut »sozialistisch« streichen würden, könnten wir die vollzogene Entwicklung und die Aufgaben der nächsten Zeit ohne Schwierigkeit der »nachholenden« Entwicklung zuordnen. Eine im Vergleich zum Kapitalismus höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung läßt sich (noch) nicht erkennen. Die gesellschaftliche Entwicklung Chinas befindet sich gewissermaßen noch im Vorfeld einer sozialistischen Gesellschaft.
Diese Erkenntnis provoziert, den in China offiziell verwendeten Begriff Sozialismus kritisch zu befragen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr kommunistische Parteien bei der Benennung gesellschaftlicher Entwicklungen mit der Realität in Widerspruch geraten können. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur Chinas wird der Begriff »sozialistische Marktwirtschaft« heute auch ohne das Attribut verwendet. Zugleich wird die chinesische Marktwirtschaft mit der »reifen Marktwirtschaft« im Kapitalismus in einer Weise verglichen, als ob darin die Zukunft Chinas zu sehen sei. Und dann lese ich noch: Für den ehemaligen Chefunterhändler der VR China in den Verhandlungen mit der WTO, Long Yongtu, und führende chinesische Ökonomen, wie Wu Jinglian und Dong Furen, besteht der Unterschied zwischen der »sozialistischen Marktwirtschaft« Chinas und jener der kapitalistischen Länder darin, daß in der chinesischen Variante mehr Gerechtigkeit praktiziert würde. (Nanfang Zhoubao, 2.11.01) Sozialismus = (nur) mehr Gerechtigkeit?
In der »Mitte« angekommen
Die Aneignung der zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit aus der Epoche des Kapitalismus birgt immer die Gefahr in sich, daß sie in Anpassung an kapitalistische Praktiken abgleiten kann. Diese Gefahr sehe ich heute in China. So orientiert sich die Sozialpolitik der KPCh nach westlich-bürgerlichem Beispiel am Schichtkriterium Einkommen. Eigentumsverhältnisse spielen hier keine Rolle mehr. Die von der Partei in den nächsten 20 Jahren angestrebte Sozialstruktur soll sich aus einer kleinen Schicht mit hohem, einer kleinen Schicht mit geringem und einer breiten Schicht mit mittleren Einkommen zusammensetzen.1 Die Sozialisten Frankreichs und andere sozialdemokratische Parteien haben die KPCh offensichtlich inspiriert; nun ist auch sie in der »Mitte der Gesellschaft« angekommen. Zu dieser »Mitte« zählt sie in der Hauptsache mittlere und kleine Privatunternehmer, wohlhabende Bauern, fachtechnisches Personal, Manager, administratives und Leitungspersonal sowie die besten Facharbeiter. Der Anteil dieser »Mitte« an der chinesischen Bevölkerung soll schon 15 bis 20 Prozent betragen, ihre stabilen Monatseinkommen schwanken offiziellen Angaben zufolge zwischen 10000 und 40000 Yuan (etwa 1210 bis 4880 Dollar).
Chinesische Soziologen gehen davon aus, daß sich diese »Mittelschicht« in ihrem Anteil an der Bevölkerung und in ihrem Einkommen bis 2020 dem Niveau der westlichen Länder (wo der Anteil der Mittelschicht heute mit rund 40 Prozent angegeben wird), weitgehend annähern und den Kern einer relativ stabilen Sozialstruktur bilden wird. Als Vorzüge dieser Schicht gelten ihr Interesse an der politischer Stabilität des existierenden Regimes, unter dem sie zu Wohlstand gefunden hat, und ihre Rolle als stabiler Faktor einer effektiven Binnennachfrage. Über die politische Dimension dieser sozialen Orientierung wird noch zu reden sein.
Das verkündete Ziel des gemeinsamen Wohlstands scheint sich unter dem Einfluß der Marktwirtschaft aufzulösen. »Legale« hohe Einkommen sollen nach oben nicht begrenzt werden. Aus dem chinesischen Finanzministerium hieß es sogar, im Zuge der Annäherung des chinesischen Wirtschaftspotentials an das der USA werden sich auch in China Einkommen entwickeln, die denen in den USA nicht nachstehen. Für die Schicht der niederen Einkommen gilt die Sicherung des Existenzminimums. Auf ihrem letzten Parteitag verkündete die KPCh zwar, allzu großen Einkommensunterschieden im Interesse gesellschaftlicher Stabilität entgegenwirken zu wollen. Bisher sind derartige Schritte jedoch nicht erkennbar.
»Einholen und überholen«
Ein Faktor, der die Gefahr einer Anpassung an kapitalistische Verhältnisse stimuliert, ist z.B. der Einfluß der Weltbank und führender westlich-bürgerlicher Ökonomen auf Diskussion und Beschlüsse der chinesischen Reformpolitik. Ein Beispiel dafür war das internationale Symposium mit der Weltbank über die Reform der Makrowirtschaft im September 1985. Hier wurde die Grundlage für die Orientierung Chinas auf die Marktwirtschaft gelegt. Die Äußerung Deng Xiaopings über die Möglichkeit, Sozialismus und Marktwirtschaft zu verbinden, dürfte ebenfalls auf eine Beratung mit der Weltbank (Yuetan-Beratung im Juli 1987) zurückgehen.
Unter dem gleichen Gesichtspunkt können wir auch die Strategie der KPCh betrachten, »die entwickelten Länder einzuholen und zu überholen«. Dieses Thema wird seit Jahren intensiv diskutiert. Erst kürzlich veröffentlichte einer der führenden chinesischen Ökonomen und Berater der Zentralregierung, Prof. Hu Angang von der Kaderschmiede Qinghua-Universität, einen Beitrag zum Thema »Strategie, wie China den USA folgen und sie einholen können«. (Beijing Chenbao, 26.12.02) Diese Tendenz zeigt sich gleichermaßen im Bestreben, die kapitalistische Welt womöglich noch zu übertrumpfen. So soll in China das höchste Bauwerk errichtet oder der größte Automarkt der Welt entstehen. Entsprechend breitet sich unter den Neureichen der Städte ein Lebensstil aus, dessen Vorbilder im Konsum unverkennbar die Hautevolee der USA und anderer westlicher Länder ist.
1) Siehe Bericht des ZK an den 16.Parteitag der KP Chinas v. 8.11.02, in: Beijing Qingnian Bao v. 18.11.02. Alle Bezüge auf den 16.Parteitag sind dieser Quelle entnommen.
* Morgen: Aspekte der ökonomischen Entwicklung |
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