G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik


Erster Teil

Die objektive Logik


Erstes Buch

Die Lehre vom Sein



Erster Abschnitt


Bestimmtheit (Qualität)


Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare; es ist frei von der Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann. Dies reflexionslose Sein ist das Sein, wie es unmittelbar nur an ihm selber ist.

Weil es unbestimmt ist, ist es qualitätsloses Sein; aber an sich kommt ihm der Charakter der Unbestimmtheit nur im Gegen­satze gegen das Bestimmte oder Qualitative zu. Dem Sein überhaupt tritt aber das bestimmte Sein als solches gegenüber; damit aber macht seine Unbestimmtheit selbst seine Qualität aus. Es wird sich daher zeigen, daß das erste Sein an sich be­stimmtes [ist], und hiermit

Zweitens, daß es in das Dasein übergeht, Dasein ist; daß aber dieses als endliches Sein sich aufhebt und in die unendliche Beziehung des Seins auf sich selbst,

Drittens in das Fürsichsein übergeht.

[Hegel: Wissenschaft der Logik, Hegel-Werke Bd. 5, S. 82]



Erstes Kapitel


Sein


A. Sein


Sein, reines Sein, - ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen. Durch irgendeine Bestim­mung oder Inhalt, der in ihm unterschieden oder wodurch es als unterschieden von einem Anderen gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbe­stimmtheit und Leere. - Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.

[Hegel: Wissenschaft der Logik Hegel-Werke Bd. 5, S. 82-83]

B. Nichts


Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosig­keit; Ununterschiedenheit in ihm selbst. - Insofern Anschauen oder Denken hier erwähnt werden kann, so gilt es als ein Un­terschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden unterschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem An­schauen oder Denken; oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein. - Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.

[Hegel: Wissenschaft der Logik, Hegel-Werke Bd. 5, S. 83]



C. Werden


a. Einheit des Seins und Nichts


Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein - nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und un­trennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil ver­schwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmit­telbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Wer­den; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.

[Hegel: Wissenschaft der Logik, Hegel-Werke Bd. 5, S. 83]



b. Momente des Werdens


Das Werden, Entstehen und Vergehen, ist die Ungetrenntheit des Seins und Nichts; nicht die Einheit, welche vom Sein und Nichts abstrahiert, sondern als Einheit des Seins und Nichts ist es diese bestimmte Einheit oder [die,] in welcher sowohl Sein als Nichts ist. Aber indem Sein und Nichts jedes ungetrennt von seinem Anderen ist, ist es nicht. Sie sind also in dieser Einheit, aber als Verschwindende, nur als Aufgehobene. Sie sinken von ihrer zunächst vorgestellten Selbständigkeit zu Momenten herab, noch unterschiedenen, aber zugleich aufge­hobenen.

Nach dieser ihrer Unterschiedenheit sie aufgefaßt, ist jedes in derselben als Einheit mit dem anderen. Das Werden enthält also Sein und Nichts als zwei solche Einheiten, deren jede selbst Einheit des Seins und Nichts ist; die eine das Sein als unmittelbar und als Beziehung auf das Nichts; die andere das Nichts als unmittelbar und als Beziehung auf das Sein: die Be­stimmungen sind in ungleichem Werte in diesen Einheiten.

Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung; in der einen ist das Nichts als unmittelbar, d.h. sie ist anfan­gend vom Nichts, das sich auf das Sein bezieht, d.h. in dasselbe übergeht, in der anderen ist das Sein als unmittelbar, d. i. sie ist anfangend vom Sein, das in das Nichts übergeht, - Entstehen und Vergehen.

Beide sind dasselbe, Werden, und auch als diese so unter­schiedenen Richtungen durchdringen und paralysieren sie sich gegenseitig. Die eine ist Vergehen; Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist ebensosehr das Gegenteil seiner selbst, Überge­hen in Sein, Entstehen. Dies Entstehen ist die andere Richtung; Nichts geht in Sein über, aber Sein hebt ebensosehr sich selbst auf und ist vielmehr das Übergehen in Nichts, ist Vergehen. - Sie heben sich nicht gegenseitig, nicht das eine äußerlich das andere auf, sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner.

[Hegel: Wissenschaft der Logik, Hegel-Werke Bd. 5, S. 111-112]



c. Aufheben des Werdens


Das Gleichgewicht, worein sich Entstehen und Vergehen set­zen, ist zunächst das Werden selbst. Aber dieses geht ebenso in ruhige Einheit zusammen. Sein und Nichts sind in ihm nur als Verschwindende; aber das Werden als solches ist nur durch die Unterschiedenheit derselben. Ihr Verschwinden ist daher das Verschwinden des Werdens oder Verschwinden des Ver­schwindens selbst. Das Werden ist eine haltungslose Unruhe, die in ein ruhiges Resultat zusammensinkt.

Dies könnte auch so ausgedrückt werden: Das Werden ist das Verschwinden von Sein in Nichts und von Nichts in Sein und das Verschwinden von Sein und Nichts überhaupt; aber es be­ruht zugleich auf dem Unterschiede derselben. Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich.

Dies Resultat ist das Verschwundensein, aber nicht als Nichts, so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufge­hobenen Bestimmungen, nicht Resultat des Nichts und des Seins. Es ist die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seins und Nichts. Die ruhige Einfachheit aber ist Sein, jedoch ebenso nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Gan­zen.

Das Werden so [als] Übergehen in die Einheit des Seins und Nichts, welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Dasein.

[Hegel: Wissenschaft der Logik, Hegel-Werke Bd. 5, S. 113]