Die Dialektik des Anfangs: Sein - Nichts - Werden


Folgt man der Beurteilung Hegels, so war die vormalige Metaphysik als die vermeintliche Krone der Philosophie am Ende. Nachdem ihre Möglichkeiten erschöpft waren, begann ihr Verwesen. Mit ihrem Zugrundegehen bereitete sie zugleich den Gärgrund eines neuen wis­senschaftlichen Anfangs der Philosophie. Die Logik dieses Anfangs barg das Potential für den Anfang einer Logik, die nicht mehr von ihrem Inhalt getrennt ist, d.h. bloß formal, als reine Methodenlehre fungiert und damit gleichgültig jeglichen Inhalts ist. Eine solche nicht mehr nur formale Logik zu begründen, nahm Hegel mit der „Wissenschaft der Logik“ sodann in Angriff, mit dem Anspruch, die Bewegung des Bestimmens als auch dessen (An-)Trieb zu er­gründen.

Das Hegelsche Verdikt erfolgte aus der Einschätzung, dass die einstmalige Metaphysik, mit ihren vielfältigen Formen und Gewissheiten, der Kritik des Empirismus (Hume, Locke, Mill u.a.) auf der einen Seite und der des Rationalismus (Descartes, Spinoza, Leibniz u.a.) auf der anderen anheim gefallen war. Die Metaphysik konnte darum nicht mehr aufrecht erhalten werden, aber gleichzeitig war kein funktionales Äquivalent zu ihr entstanden. Betrachte man schließlich den Verlauf dieser Metaphysikkritik, dann zeige sich, so Hegel, dass jede der phi­losophischen Positionen - Empirismus und Rationalismus -, jeweils als absolut-gesetzte, in ihr Gegenteil umschlagen musste. Daraus erweise sich, dass diese Positionen schon immer vermittelt seien. Trotz einer von Kant versuchten Vermittlung klafften Erkenntnistheorie und Logik noch immer auseinander. Und so münde die Kritik der Metaphysik schließlich in einem ‚leeren’, unerkennbaren und bestimmungslosen „Ding an sich“ und gleichzeitig bei einem „reinen Ich“ und seinen logischen Kategorien, das ebenfalls unbestimmt sei. Die Kritik der Metaphysik ende also bei zwei völlig inhaltsleeren Abstrakta und daran gelte es, so Hegel, nun in einem Neuanfang anzuknüpfen. Der Neubeginn ist so gesehen ein Anfang bei dem Punkt, an dem die Bewegung der Kritik endete.

Allgemein betrachtet ist ein Anfang notwendig und beliebig zugleich. Man kann nicht nicht anfangen, aber man kann immer nur irgendwie anfangen. Es zeigt sich dabei zum einen eine Beliebigkeit, da alles möglich und folglich die Notwendigkeit hierbei ein Nichts ist. Zum an­deren stellt sich in der Projekthaftigkeit des Anfangs ein „Sollen“ mit dem Charakter der Notwendigkeit ein. „Es ist noch Nichts, und es soll Etwas werden“ schreibt Hegel unter der Fragestellung „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Und obwohl noch nichts ist, knüpft ein Anfang stets an Vorhandenem an, etwa an Diskursen oder vorge­fundenem Material. Insofern ist ein Anfang kein Beginn im Sinne einer creatio ex nihili.

„Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas aus­gehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts.“

Und weiter schreibt Hegel:

„Sein und Nichts sind im Anfang als unterschieden vorhanden“.

Die Logik des Anfangs gibt damit ein beispielhaftes Muster für die ‚Figur’ der Identität von Identität und Nichtidentität ab, die im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielt.



A. Sein


In der Logik des Anfangs findet Hegel für den Anfang des Projekts der „Wissenschaft der Logik“ ein entwicklungsfähiges Logisch-Elementares, das ohne Voraussetzungen auskommt, im Ausdruck »Sein«. Der erste Abschnitt mit der Überschrift „Sein“ fängt daher an mit:

Sein, reines Sein, - ohne alle weitere Bestimmung.“

Dies ist nicht einmal ein vollständiger Satz und klingt vielmehr wie ein Ausruf, etwa nach einem Erschrecken; also wie etwas, dem man ausgeliefert ist, das außerhalb einer Disponibi­lität liegt. So wie wenn man durch etwas Unbestimmtes sich erschrickt, erscheint auch das reine Sein als „das unbestimmte Unmittelbare“. Doch die Analogie des Erschreckens ist viel zu voraussetzungsbeladen; setzt sie doch zwei unterschiedene Instanzen voraus, nämlich die­jenige, die erschrickt und diejenige, die dies verursacht. Das reine Sein ist viel basaler ange­legt, um den Anspruch eines voraussetzungslosen Philosophierens zu gewährleisten. „Es ist“, nach Hegel,

nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken.“

Doch ist dies wirklich ein - in begrifflicher Hinsicht - voraussetzungsloser Anfang, mit dem Hegel hier einsetzt? Setzt er beim Reden über das reine Sein nicht schon Begriffe wie An­schauen und Denken voraus? Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Denken und Anschauen hier lediglich erläuternde Funktion haben. Dass dabei nichts bestimmtes, allenfalls in negati­ver Form als unbestimmtes ausgesagt wird, zeigt sich am Gesagten selbst. Denn die Aus­drücke, in denen sich das reine Sein erläutert, zeigen ihr Nichtsein an. Womit angefangen wird ist nur „Sein, reines Sein“, alles weitere ist sozusagen nur ein Reden-Über; das Sein ist dabei nicht affirmativ bestimmt.

Man kann diese Unbestimmtheit des Seins auch anhand sprachlicher Sachverhalte verdeutli­chen, z.B. lassen sich Urteilsformen auf die Struktur »S ist P« zurückführen, d.h. als Zuspre­chen oder Absprechen eines Prädikats »P« bezogen auf ein Subjekt »S«. Die Kopula »ist«, als Verbindung von Subjekt und Prädikat, bezeichnet dabei ein Sein, das von einem bestimmten Sein gänzlich verschieden ist. Bei den Sätzen, „ein Maulwurf ist ein Tier“, „er ist blind“, „ein Urteil ist richtig“ oder „das Absolute ist“, stellt das »Sein« die substantivierte Form von »ist« dar. Es ist leicht ersichtlich, dass dieses »ist« nicht etwas ist, das zum Subjekt eines be­stimmten Satzes gemacht werden könnte. Denn wollte man die Kopula selbst als etwas be­stimmtes definieren, dann müssten wir das »ist« benützen, das wir zu definieren versuchen, was offensichtlich unmöglich ist. D.h., es ist nicht möglich das »Sein« in diesem Sinne, wie einen Gegenstand zu definieren. Man kann zwar sagen irgendein »Ding ist«, aber das »Sein ist nicht irgendein Ding«. Das Sein ist daher „die reine Unbestimmtheit und Leere“, denn wenn nicht etwas ist, ist vielmehr nichts, so will man meinen.

Um noch mehr Licht in diese Angelegenheit zu bringen, soll eine weitere Erläuterung ge­wagt werden: Als ein analoges heuristisches Mittel, wie Hegel Anschauen und Denken ver­wendet - „insofern Denken oder Anschauen hier erwähnt werden kann“ -, ist es sicherlich möglich, den Ausdruck Vorstellung einzuführen. Dies mündet in den Versuch, sich einen völlig leeren, unbestimmten und durch nichts unterschiedenen Vorstellungsgegenstand vorzu­stellen. Doch woran ist dieser zu fassen? Allenfalls an seiner Unbestimmtheit und Unmittel­barkeit, daran dass er nicht unterschieden ist und ohne Inhalt. Es erweist sich, dass die Vor­stellung vom reinen Sein eine nicht überbietbare basale Vorstellung ist, es ist aber sozusagen auch eine Unvorstellung. Doch ist dies nicht zugleich eine Vorstellungslosigkeit?

Schien die Erörterung auf der sprachlichen Erläuterungsebene schon zu dem etwas merkwür­digen Sachverhalt zu führen, dass wir vom Sein ausgingen und im Endeffekt beim Nichts landeten, so scheint dies auf der Ebene der Vorstellung ebenfalls drastisch ersichtlich. Ent­sprechend lautet Hegels Schlusssatz in seiner Einführung des Seins:

„Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts.“


B. Nichts


Es scheint, als ob die Hegelsche Darstellung des Bestimmungsprozesses gleich zu Anfang in eine Sackgasse geraten sei. „Das Sein ist ... Nichts“ heißt es im letzen Satz des ersten Unter­abschnittes. Hegel unterzieht das »Nichts« nun einer entsprechenden Erläuterung:

Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst.“

Versucht man sich etwa das reine Nichts vorzustellen, so ist dies einzig als Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit möglich. Doch ist dies nicht ebenfalls beim reinen Sein der Fall? Ist die Vor­stellung vom Nichts damit dieselbe wie die Vorstellung vom Sein? Etwas genauer betrachtet, wird von Hegel das Sein aber als Unbestimmtheit und das Nichts als eine Bestimmungslosig­keit erläutert. Und weiter: Das reine Sein „hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen“ und das Nichts ist die „Ununterschiedenheit in ihm selbst“. Das Sein ist „sich selbst gleich“ und das Nichts ist die „einfache Gleichheit mit sich selbst“. Es deuten sich also Unterschiede zwischen Sein und Nichts an. Hegel macht es sich nicht zu einfach in dem Sinne, ‚wenn das Sein nicht etwas ist, ist es nichts’.

So wie es einen Unterschied macht, sich nichts oder das Nichts vorzustellen, so heißt es dann bei Hegel:

„so gilt es als ein Unterschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden un­terschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken“.

Doch befragt, was denn die Vorstellung vom Nichts sei, wird der Unterschied der Vorstellung vom reinen Sein und der Vorstellung vom Nichts nichtig, denn es ist dasselbe leere Vorstel­len;

„oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe leere Anschauen der Denken als das reine Sein.“

Man kann sich keine unbestimmteren und bestimmungsloseren Begriffe als »Sein« und »Nichts« vorstellen. Es sind nicht überbietbare basale Vorstellungen; sie sind verschieden hinsichtlich ihrer Funktion, doch beide inhaltlich leer. Und darin gleichen sie sich; mehr noch: sie sind darin dasselbe.

Schon der Schlusssatz zum »Sein« kann auf die Kurzform gebracht werden, »das Sein ist das Nichts«, so lautet entsprechend der abschließende Satz zum »Nichts«:

„Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.“

Wie aus den Erläuterungen sicherlich ersichtlich wurde, führt der Satz »das Sein ist das Nichts«, sowohl Identität, als auch Nichtidentität vor. »Das Sein ist das Nichts« ist die ele­mentarste Instantiierung von Identität der Identität und Nichtidentität.

Dies gilt es im Folgenden näher zu betrachten. Doch zunächst müssen die gegenteiligen Aus­sagen, dass Sein und Nichts verschieden sind oder dass Sein und Nichts nicht verschieden sind, zu einer Lösung gebracht werden. Folgerichtig deutet sich eine mögliche Lösung im folgenden Unterabschnitt an, nämlich Sein und Nichts als Einheit zu betrachten. Diese Einheit ist das Werden.



C. Werden


a. Einheit des Seins und Nichts


Es wurde dargestellt, dass es in der Vorstellung einen Unterschied macht, ob etwas vollkom­men Unbestimmtes vorgestellt wird oder ob nichts vorgestellt wird. Die Vorstellung einer noch so leeren und inhaltsarmen Vorstellung ist eben eine Vorstellung, im Gegensatz dazu, dass überhaupt keine Vorstellung vorhanden ist. Doch wenn wir uns das reine Sein vorzu­stellen versuchen, dann landen wir sofort beim Nichts. Haben wir andererseits eine Vorstel­lung vom Nichts, so treffen wir auf dieselbe Bestimmungslosigkeit wie beim reinen Sein.

Da der Satz »das Sein ist das Nichts« anders ist als »A = A« und doch auf Identisches ver­weist, birgt er eine gegenteilige Aussage. Der Satz zeigt Identität und zeigt eine Nichtidenti­tät, er führt somit die Identität von Identität und Nichtidentität vor. Man kann den Satz auf zwei verschiedene Arten auseinanderlegen:

a) Das Sein und das Nichts sind identisch.

b) Das Sein und das Nichts sind nicht identisch.

Im Vorstellen von Sein und Nichts bilden wir einmal eine Vorstellung des Identischseins des einen mit dem anderen und einmal des Nichtidentischseins des anderen mit dem einen. Es stellt sich mal so und mal anders dar, je nachdem wie wir den Satz »das Sein ist das Nichts« akzentuieren. Zwischen den beiden notwendigen und gleichfalls schlüssigen Argumentationen a) und b) werden wir sozusagen hin- und hergeworfen. Wir sind von diesen beiden Möglich­keiten irritiert, die uns in bezug auf den Fortgang des Bestimmens stören. Da dies unbefriedi­gend ist, stellt sich zwangsläufig die Frage ein: Stimmt nun a) oder b)?

Der Gang der Argumentation ist bei Hegel darum folgender:

Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein - nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewe­gung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“

Die Vorstellung vom Sein ist in die vom Nichts übergegangen und umgekehrt. Wir erfahren hierbei in elementarer Weise Bewegung und diese elementare Form des ständigen Anders­werdens, des mal Soseins und mal Andersseins, ist das »Werden«. Es ist dies eine höherstu­fige Vorstellung, die sich zwangsläufig einstellt, um sich dieses Irritiertsein vorzustellen. Es ist somit eine erste elementare Form der Reflexion, eine Reflexion an sich, wenn das Irritiert­sein der möglichen Bestimmtheiten selbst in Betracht gezogen wird. Darum ist das Werden ein erster möglicher Bestimmungsversuch dieser elementaren Form von Bewegung. Das Wer­den ist die Kollektivbestimmung des Übergangs vom Sein zum Nichts und vom Nichts zum Sein.



b. Momente des Werdens


Bei der näheren Betrachtung des Werdens kommt Hegel auf eine wichtige, schon im letzten Abschnitt eingeführte, Unterscheidung zurück, die von Getrenntsein und Unterschiedenheit. Sein und Nichts sind zwar „absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar“ heißt es dort. Im Gegensatz zur »Trennung« besagt der Ausdruck »Unterschiedenheit«, dass Verschiedenes aufeinander bezogen ist.

Beim Übergang von Sein und Nichts zum Ansich des Werdens ist noch keine Unterscheidung der Bewegung vom Sein zum Nichts und der vom Nichts zum Sein vorhanden, sondern das bloße Erfahren eines Hin- und Hergeworfenwerdens. Indem wir das reine Sein mit dem Nichts und umgekehrt in bezug setzen, erfahren wir die Möglichkeit einer elementaren Be­stimmung, die Möglichkeit des Etwas-in-Bezug-Setzens. So heißt es nun bei Hegel:

„Nach dieser ihrer Unterschiedenheit sie aufgefaßt, ist jedes in derselben als Ein­heit mit dem anderen. Das Werden enthält also Sein und Nichts als zwei solche Einheiten, deren jede selbst Einheit des Seins und Nichts ist; die eine das Sein als unmittelbar und als Beziehung auf das Nichts; die andere das Nichts als unmittel­bar und als Beziehung auf das Sein: die Bestimmungen sind in ungleichem Werte in diesen Einheiten.“

Da sich aber die Bewegung nur unter Bezug des Seins auf das Nichts und umgekehrt voll­zieht, wird es möglich zwei Relationen zu unterscheiden, die vom Sein zum Nichts und die vom Nichts zum Sein. Die erste bezeichnet Hegel als Vergehen und die zweite als Entstehen.

Die Überschrift dieses Unterabschnitts lautet bekanntlich „Momente des Werdens“. Momente können sowohl Aspekte als auch zeitliche Einheiten, etwa Zeitpunkte, sein. Als Aspekte be­zeichnen die Momente »Vergehen« und »Entstehen«, „die Ungetrenntheit des Seins und Nichts“. Es schwingt aber noch eine weitere Wortbedeutung mit, die auf Dynamik verweist, analog der Mechanik, bei der von Drehmomenten oder Antriebsmomenten gesprochen wird.

Dem (Anders-)Werden liegt eine ‚keimhaft-elementare’ Zeitlichkeit zugrunde und es wird in dieser Dynamik eine Art elementarer Antrieb, eine erste basale Form des (An-)Triebs des Bestimmens, in seiner Möglichkeit, erfahren. Die Momente »Vergehen« und »Entstehen« treiben deshalb einmal von Sein zum Nichts und mal vom Nichts zum Sein, weil Sein und Nichts dabei als „ungleiche Werte“ gesetzt sind. Beim Vergehen wird das Sein als unmittelbar genommen und von ihm aus die Verbindung zum Nichts hergestellt. Beim Entstehen ist das Nichts das Unmittelbare und das Sein steht in Relation dazu. Einmal ist also das Nichts die Bezogenheit zum unmittelbaren Sein, das andere mal ist das Sein die Bezogenheit zum un­mittelbaren Nichts. Vergehen und Entstehen bezeichnen die (Bewegungs-)Richtungen dieser Bezugsetzungen.

Doch nun deutet sich im Fortgang der Überlegungen ein Widerspruch an. Fragt man nach den gesetzten Variablen - bei Hegel »Werte« genannt -, einmal das unmittelbare Sein, einmal das unmittelbare Nichts, so bricht die Unterscheidung von Vergehen und Entstehen in sich zu­sammen, da bisher nur die Bewegungen bestimmt sind, aber nicht Sein und Nichts. So heißt es dann bei Hegel:

„Sie (Entstehen und Vergehen, Anm. CB) heben sich nicht gegenseitig, nicht das eine äußerlich das andere auf, sondern jedes hebt sich an sich selbst auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner.“



c. Aufheben des Werdens


Die Vorstellungen von Entstehen und Vergehen sind ebenfalls, wie die von Sein und Nichts, leere Vorstellungen; jedoch gelangten wir von der elementarsten Vorstellung des Werdens, eines Ansich des Werdens, als Einheit von Sein und Nichts, zu einer ersten Bestimmung des Werdens, als Einheit von Entstehen und Vergehen.

Die Gerichtetheit der Bewegungen von Entstehen und Vergehen sind entgegengesetzt, d.h. jeweils ihr genaues Gegenteil. Doch nun taucht zum ersten Mal ein Widerspruch auf und zwar ein logischer, genauer: ein kontradiktorischer. So heißt es nun:

„Das Werden ist das Verschwinden von Sein in Nichts und von Nichts in Sein und das Verschwinden von Sein und Nichts überhaupt; aber es beruht zugleich auf dem Unterschiede derselben. Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich.“

Der Widerspruch setzt die Unterschiedenheit voraus und er entwickelt sich erst auf dieser Grundlage. Betrachten wir darum zunächst die Unterschiedenheit, die eben noch kein Wider­spruch ist. Am Anfang des Abschnitts „Werden“, der „Einheit des Sein und Nichts“, weisen Sein und Nichts darum noch keinen Widerspruch auf, da jedes immer schon in sein Gegenteil „übergegangen ist“. Auch der erste elementare Unterschied erwies sich dabei noch nicht als Unterschied, sondern als einer, der sich „unmittelbar aufgelöst hat“. Der Unterschied als In-Bezug-Setzung tritt erst in der Bewegung, d.h. im Werden, auf. Erst als im Werden zuerst einmal das Sein gesetzt und dann der Bezug zum Nichts hergestellt wird und umgekehrt, wird der Unterschied als Unterschied vorgeführt. Vergehen und Entstehen sind zwar unterschieden, aber dennoch sind sie symmetrisch; sie sind im Gleichgewicht.

„Das Gleichgewicht, worein sich Entstehen und Vergehen setzen, ist zunächst das Werden selbst. Aber dieses geht ebenso in ruhige Einheit zusammen“,

schreibt Hegel und einige Zeilen später ist zu lesen:

„Das Werden ist eine haltungslose Unruhe, die in ein ruhiges Resultat zusammen­sinkt.“

Das Werden ist das ständige Verschwinden von Sein in Nichts und umgekehrt, d.h. eine hal­tungslose Unruhe und zugleich ist es die bestimmte Einheit von Entstehen und Vergehen, d.h. ein ruhiges Resultat, gewonnen durch Setzungen. Durch die Erinnerung der Rekonstruktion des Werdens ist schließlich der Widerspruch erfahrbar.

Von hier aus ist es aber auch möglich, nach der Grundlage des Unterschieds von Entstehen und Vergehen zu fragen, und wir erinnern uns dabei, dass dieser aufgrund von etwas selbi­gem, nämlich Sein und Nichts getroffen wurde. Wenn Sein und Nichts dasselbe sind, dann ist auch die Bewegung vom Sein zum Nichts und vom Nichts zum Sein nicht zu unterscheiden. Mit dem Zusammenbruch dieser Unterscheidung bricht auch der (logische) Widerspruch in sich zusammen. Die Unterschiedenheit und der Widerspruch werden gegenstandslos.

Bisher sind also nur Bewegungen bestimmt - Entstehen und Vergehen - aber noch nicht Sein und Nichts; wir erfahren also noch immer nichts über deren Unterschied. Aber die Einheit von Sein und Nichts ist im Zusammenbruch der ersten Bestimmungen erfahrbar.

„Dies Resultat ist das Verschwundensein, aber nicht als Nichts, so wäre es nur ein Rückfall in die eine der schon aufgehobenen Bestimmungen, nicht Resultat des Nichts und des Seins. Es ist die zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seins und Nichts. Die ruhige Einfachheit aber ist Sein, jedoch ebenso nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Ganzen.“

Der Zusammenbruch der Unterscheidbarkeit der Bewegungen zerstört daher nicht den Ge­genstand unserer Vorstellung, denn Sein und Nichts sind als Vorstellungsgegenstände immer noch vorhanden. Sie sind aber nicht mehr als unmittelbare vorhanden, sondern als Bestimmt­heit, als Resultat des (Inbezug-)Setzens. Mit dem „Verschwinden des Verschwindens“ - von Sein in Nichts und Nichts in Sein - und dem Verschwinden der Polarisierung - Entstehen und Vergehen - bleibt somit etwas als Resultat bestehen. Das Resultat des von Hegel vorgeführten Bestimmungsprozesses heißt »Dasein«.

„Das Werden so [als] Übergehen in die Einheit des Seins und Nichts, welche als seiend ist oder die Gestalt der einseitigen unmittelbaren Einheit dieser Momente hat, ist das Dasein.“

Das Dasein als Aufgehobenes hat zwar der Bewegung des Anderswerdens zunächst einmal ein Ende gemacht. Aber mit dem „Verschwinden des Verschwindens“ geht gleichzeitig auch ein Verlust einher. Darum schreibt Hegel dem Dasein Einseitigkeit zu. Das Werden, sowohl als Bewegung des Verschwindens als auch als Einheit von Entstehen und Vergehen, hatte sozusagen noch ‚den Keim des Absoluten’, da es nicht einseitig war. Die Einheit des Sein und Nichts ist nun aber zur „ruhigen Einfachheit“ geworden.

Nun wird rückblickend deutlich, warum Hegel diesen Prozess in der Überschrift dieses Ab­schnittes als „Aufheben des Werdens“ bezeichnet. Aufheben und das Aufgehobene seien einer der wichtigsten Grundbegriffe der Philosophie schreibt Hegel in einer nachfolgenden Anmer­kung und weiter:

„Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Re­sultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.“

Hegel weist darauf hin, dass »aufheben« zwei verschiedene Wortbedeutungen hat. Einmal wird »aufheben« im Sinne von „ein Ende machen“, beseitigen oder abschaffen gebraucht, das andere mal im Sinne von „erhalten“ oder (auf)bewahren. Aufheben kann des weiteren auch als auf-eine-höhere-Stufe-heben verstanden werden.

Das erste elementare Bestimmen hat zu einem ersten Resultat auf einer höheren Stufe geführt. Als Resultat des Aufhebungsprozesses des Werdens wird das Dasein gewonnen. Wir erfahren dabei eine erste qualitative Vorstellung eines Vorstellungsgegenstandes. Wir erfahren ebenso, dass etwas nicht immer wieder im ‚Einheitsbrei’ des Entstehens und Vergehens verschwindet, sobald wir versuchen es zu bestimmen.

„Dasein ist bestimmtes Sein;“

schreibt Hegel gleich zu Anfang des nächsten Kapitels. Diese Bestimmtheit stellt sich dar, als Aufhebung des Werdens, d.h. der bestimmten Einheit des Werdens, als Einheit von Vergehen und Entstehen sowie dem (Anders-)Werden in der ständigen Bewegung von Sein und Nichts. Sein und Nichts hören durch das In-Beziehung-Setzen auf reine Unmittelbarkeiten zu sein, wie sie sich ebenfalls als Abstraktionen herausstellten. Sie erhalten damit Bestimmtheit oder, wie Hegel es auch nennt, „Realität“. Das Dasein ist das Resultat der ersten Denkbewegung, ihre erste Verwirklichung, Bestimmtheit und neuer Ausgangspunkt des weiteren Bestim­mungsprozesses.


Zusammenfassung


Den Anfang der „Wissenschaft der Logik“ als einer genetischen Entwicklung von Denkbe­stimmungen bildet eine absolute Ununterschiedenheit, ein reines Sein, das unmittelbar und ohne alle weiteren Bestimmungen ist. Die absolute Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit erläu­tert das Nichts. Sein und Nichts führen die Identität von Identität und Nichtidentität vor. Das reine Sein ist immer schon in Nichts übergegangen und umgekehrt. Es zeigt sich die Untrenn­barkeit von Sein und Nichts und zugleich ihre absolute Unterschiedenheit. Im hin und her zwischen Sein und Nichts wird in elementarer Weise Bewegung vorgeführt, das Werden. Die Bewegung ausgehend vom Sein hin zum Nichts ist das Vergehen und vom Nichts zum Sein ist das Entstehen. Es sind Möglichkeiten von Inbezugsetzungen mit unterschiedlicher Wertig­keit, da einmal vom Sein ausgegangen wird und das andere Mal vom Nichts. Entstehen und Vergehen sind insofern gegenteilige Richtungen. Der Bestimmungsprozeß führt jedoch in einen logischen Widerspruch, da Werden sich zugleich als „haltungslose Unruhe“ und als „ruhige Einheit“ darstellt. Doch der Widerspruch löst sich auf, sobald die Grundlage der Un­terscheidung von Vergehen und Entstehen - Sein und Nichts - in Betracht gezogen wird, also durch Reflexion. Da Sein und Nichts dasselbe sind und somit die Unterscheidung zwischen Vergehen und Entstehen gegenstandslos wird, löst sich auch der Widerspruch auf. Es gibt aber etwas Bleibendes, das aus dem Werden des Bestimmungsprozesses als Aufgehobenes hervorgeht: Das erste bestimmte Resultat dieses Prozesses ist das Dasein. Das Dasein ist be­stimmtes Sein.



Literatur


Elay, Lothar: Hegels Wissenschaft der Logik. Wilhelm Fink Verlag München 1976.

Falk, Hans-Peter: Das Wissen in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Verlag Karl Alber Freiburg / München 1983.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I. Hegel Werke 5, Suhrkamp Frankfurt 1986.

Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Luchterhand Literaturverlag Frankfurt a.M. 1962.