"Arbeiten ohne Ende" "Der Arbeit wieder ein Maß geben". Das sind die Themen einer Diskussion und Kampagne, die von gewerkschafts- und betriebspolitischer Brisanz sind. Denn die bisherigen Beiträge zu dieser Auseinandersetzung mit grundlegenden Veränderungen im Verhältnis zur Arbeit und Arbeitszeit stellen, radikaler als bislang gewohnt, das Selbstverständnis von Betriebsräten und gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik in Frage.
Dass Tarifverträge oft nichts mehr gelten, weil sie permanent unterlaufen werden, gehört zur allgemeinen Erfahrung von Betriebsräten und Gewerkschaften. Dass dies keineswegs immer nur durch unmittelbaren Druck seitens der Unternehmer, sondern immer mehr von unten geschieht, wird mittlerweile ebenso offen zugegeben. Die klassische Erklärung, wonach dies auf die Erpressbarkeit durch die Reservearmee der Erwerbslosen zurückzuführen ist, hat nichts an Wahrheit verloren, aber es ist auch nur ein Teil der ganzen Wahrheit. Selbst in Bereichen, in denen die Arbeitsmarktlage eine selbstbewusste Verhandlungsposition ermöglichen würde, sind die Anpassungsleistungen von unten keineswegs schwächer ausgeprägt als dort, wo tatsächlich binnen kurzer Zeit eine Arbeitskraft durch eine andere ersetzt werden könnte. Wie auch immer dieses Phänomen erklärt wird, es ist nicht zu leugnen, dass es sich bei diesen Anpassungsleistungen um eigenes Tun handelt, um Handlungen und Verhaltensweisen, die immer weniger auf offenen Druck oder direktes Kommando seitens der Vorgesetzten zurückzuführen sind.
Allein bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben (Überwachung von Tarifverträgen, Gesetzen und Betriebsvereinbarungen) geraten Betriebsräte unter Umständen weniger in Gegensatz zu den Unternehmensleitungen als zu den Beschäftigten selbst. Betriebsräte nehmen dann tendenziell die Rolle einer gewerkschaftlichen Betriebspolizei ein. Extrem wird diese Rolle dort erfahren, wo Tarifverträge, die noch Schutz vor weitgehender Flexibilisierung enthalten, von Beschäftigten als "Fessel" oder bürokratische Bevormundung wahrgenommen werden. Das, was von Vorgesetzten gerne als freiwillige Überausbeutung entgegengenommen wird, entspringt bei den Beschäftigten oft dem Gefühl der Befreiung von starren, kollektiven Zeit- und Leistungskorsetten. Und dies ist keineswegs ein Phänomen, das eingrenzbar wäre auf die herausgehobene Schicht qualifizierter Angestellter, sondern gilt vor allem für die sogenannten neuen Branchen im Dienstleistungssektor, deren Gehaltsniveau höchstens dem der Fabrikfacharbeiterschaft der Großindustrie entspricht.
Auf einem Seminar über das Thema "Arbeiten ohne Ende" fasste Wilfried Glißmann, Betriebsratsvorsitzender bei IBM in Düsseldorf, dies prägnant in drei Sätzen so zusammen: "Früher ging es darum, den Arbeitnehmer vor dem Arbeitgeber zu schützen. Heute müsste der Betriebsrat den Arbeitnehmer vor sich selbst schützen. Das geht aber nicht, das können nur die Arbeitnehmer selbst tun." Diese drei Sätze zeigen die drei Erkenntnisstufen, auf denen man betriebs- und gewerkschaftspolitisch voran oder auf die Höhe der Zeit gekommen ist. Die traditionelle Betriebspolitik (auch einiger orthodoxer Rest-Linken) tut oft noch so, als müsse sie nur die Arbeitnehmer vor dem Arbeitgeber schützen. Daraus folgt oft die Sehnsucht nach der guten alten Zeit von Refa und Stechuhr: Alles Übel kommt von oben doch es kommt halt unten an. Einzusehen, dass man den Arbeitnehmer vor sich selbst schützen müsste, ist bereits ein gewisser Erkenntnisfortschritt. Eine weitere Einsicht wäre die, dass der Schutz vor sich selbst nicht mittels Stellvertreter-Politik möglich ist. Aber die Schlussfolgerungen, die daraus bislang meistens gezogen wurden, liefen auf nichts anderes hinaus als auf die Legalisierung und damit auch Legitimierung der mehr oder weniger freiwilligen Anpassungsleistungen von unten. Zu letzterem gehört das Hochjubeln der neuen Autonomie in der Arbeit als "Selbstverwirklichung" in der Arbeit. Am Ende steht dann meistens eine höchst entwickelte Form des Co-Managements, worin Betriebsräte nicht nur Seite an Seite, sondern sogar an vorderster Front des Managements auftreten.
Gewerkschafts- und betriebspolitische Anpassung an die Anpassung von unten hat katastrophale Folgen. Denn wenn es darum gehen müsste, dass sich Beschäftigte "vor sich selbst" schützen, sich also nicht selbst durch Entgrenzung der Arbeit in den Stress jagen, dann kann die affirmative Begleitung oder nach-trägliche Absicherung solcher Verhaltensweisen durch Gewerkschaften und Betriebsräte, etwa in der Arbeitszeit- und Tarifpolitik, nur dazu führen, dass die Beschäftigten noch intensiver auf sich selbst und gegeneinander gehetzt werden.
Die Debatte, die sich mittlerweile innerhalb von Gewerkschaften wie IG Metall und IG Medien entwickelt hat, ist vor allem deshalb interessant, weil sie bereits vorhandene umfangreiche wissenschaftlich-theoretische Erklärungsansätze mit Erfahrungen betrieblicher Praxis zusammenbringt. Eine Art Resümee der bisherigen Arbeiten und Diskussionsansätze zieht Klaus Pickshaus (früher Sekretär beim Hauptvorstand der IG Medien, jetzt IG Metall) in seinem Aufsatz über den "Zugriff auf den gesamten Menschen" in der März-Ausgabe der Zeitschrift "Z".
Ausgangspunkt für diese Zwischenbilanz sind die neuen Management-Strategien, die bereits von Wilfried Glißmann, Klaus Peters und Stephan Siemens bildlich im Modell der "indirekten Steuerung" beschrieben worden sind. Modellhaft wird darin das alte Kommando-System ("Command and Control"), in dem der soziale Interessengegensatz in der direkten Hierarchie zum Ausdruck kam, unterschieden von einer "indirekten Steuerung", die mehr bedeutet als die graduelle Erweiterung von Entscheidungsspielräumen für die Lohnabhängigen. Wird diesen beispielsweise eine bestimmte Zeitvorgabe gemacht, innerhalb derer sie eigene Vorschläge entwickeln oder Aufträge selbstständig bearbeiten können, die dann aber innerhalb der alten Hierarchie übernommen oder modifziert werden, bleibt es schließlich bei der klassischen Gegenüberstellung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es ist immer noch der Arbeitgeber, der dem "Kunden" gegenüber steht. Im Modell der "indirekten Steuerung" aber tritt der Arbeitgeber zur Seite und konfrontiert so den Arbeitnehmer unmittelbar mit dem "Kunden". Dieser mag real oder imaginär inszeniert sein das Arbeitsverhältnis löst sich in jedem Fall auf in eine Kunden-Dienstleister-Beziehung. Die Lohnabhängigen werden dann tendenziell zu "Arbeitskraftunternehmern". Der Zugriff auf die Arbeitskraft erfolgt dabei nicht nur in Bezug auf die Entfremdung der Arbeitszeit, sondern ist auch in Bezug auf Arbeitsorganisation und Unternehmenskultur insgesamt zu beobachten. Und die Internalisierung der Kundenbeziehung in Arbeitsabläufe ist auch keineswegs nur ein Phänomen der Dienstleistungssberufe, sondern wird als Managementtechnik bis weit in klassische Produktionsbereiche wie die Automobilindustrie hinein benutzt.(1) Die Grenzziehung zu sogenannten Scheinselbstständigen wie realen Selbstständigen wird damit insgesamt immer verschwommener.
Klaus Pickshaus wie auch die Autoren, auf die er sich bezieht, betonen, dass es sich hierbei nicht um klar voneinander zu unterscheidende Systeme handelt, sondern um Modelle, die in der betrieblichen und gesellschaftlichen Realität in Übergangsformen existieren. Entsprechend konfliktgeladen und zum Ausgang hin jeweils offen sind diese Übergänge zur "indirekten Steuerung". Von zentraler Bedeutung ist gerade für die Konfliktsituationen im Übergang zur "indirekten Steuerung", dass die neuen Management-Modelle von unten äußerst widersprüchlich aufgenommen oder sogar übernommen werden. "Die Abschaffung von Kommandostrukturen, die für den tayloristischen Kapitalismus typisch waren, wird als Befreiung von Bevormundung und Kontrolle erlebt. Die neue Selbstständigkeit in der Arbeit kann geradezu einen Lustgewinn in der Arbeit produzieren, der ähnlich oftmals bei Freien und Selbstständigen anzutreffen ist." (Pickshaus, Manuskript des Beitrages für die "Z"). Dieser Lustgewinn ist so ambivalent wie das Verhältnis von Genuss und Sucht im Konsumverhalten. Gerade die Dokumentationen zum Thema "Arbeiten ohne Ende" aus betrieblicher Praxis zeigen drastisch Züge eines Alltags- und Arbeitsverhaltens, das sich dem selbstzerstörerischen Umschlag von Genuss in Sucht angleicht. Was in den ersten Phasen noch als radikale Freisetzung kreativer Fähigkeiten erfahren wird, entpuppt sich am Ende als radikale Entfremdung, als eine "Selbst"-Bestimmung, in der ein fremdes "Selbst" die eigene Person beherrscht. "Management by Emotions" nennt sich die Herrschaftsmethode, in der am Ende die Subjektivität der Handelnden in einen Zustand existenzieller Verunsicherung versetzt wird. "Mich regiert blanke Angst", notiert eine Projektleiterin bei IBM plötzlich in einem Text, in dem sie sich mit ihrem eigenen Arbeitsverhalten konfrontiert und nach den Motiven des eigenen Handelns sucht.
Aktionen wie bei IBM in Düsseldorf, aber mittlerweile auch andernorts herbeigeführte Auseinandersetzungen mit der neuen Selbstständigkeit in der Arbeit zeigen, wie dicht Anpassung und Revolte beieinander liegen. Diese Revolte findet schon statt, freilich auf der Ebene der psychosomatischen Rebellion des eigenen Selbst in Form aller erdenklichen Krankheiten. "Die Konstitution von Gegenmacht in den Unternehmen wird in Zukunft jedenfalls durch das Nadelöhr der Auseinandersetzung des einzelnen Arbeitnehmers mit der Ambivalenz seines eigenen Willens gehen müssen", zitiert Pickshaus Klaus Peters.
Damit wird das Schlüsselproblem benannt, dass es nämlich ein verhängnisvoller Irrtum wäre, das neue Arbeitsverhalten einzig als fremdbestimmtes Tun und nicht als eigenes Tun wahrzunehmen. Gerade weil Systeme der "indirekten Steuerung" derart perfide funktionieren, dass sie zur inneren Logik der unwillkürlichen Handlungen von Einzelnen werden, liegt letztlich in der Konfrontation dieser Einzelnen mit ihrem eigenen Verhalten und damit ihrem eigenen Willen der Schlüssel für eine wirklich emanzipative Eingrenzung der Arbeit. Auf diese Weise erfährt dann die "neue Selbstständigkeit in der Arbeit" eine ganz neue Wendung selbstständig zu werden gegen diese Selbstständigkeit.
Das bedeutet nicht, dass die entfremdete und entfremdende Individualisierung nur individuell aufzuheben wäre. Sie kann es gar nicht, auch wenn sie dort beginnen muss. Betriebliche und gesellschaftliche Praxis muss daher darauf ausgerichtet sein, einen gemeinschaftlichen Rahmen und einen öffentlichen Raum herzustellen, in dem diese Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den Anderen möglich wird. Das ist eine Zeit lang exemplarisch bei IBM in Düsseldorf im Rahmen von kleinen Kampagnen und Veranstaltungen im Ansatz gelungen. Dort wie anderswo aber bleibt die Frage offen, wie denn derartige Prozesse von kollektiver und öffentlicher Auseinanderetzung auch nachhaltig zur Selbstorganisierung führen können. Wilfried Glißmann vom Düsseldorfer IBM-Betriebsrat warnt deshalb auch vor dem bloßen Kopieren dieser betrieblichen Kampagne in ganz anders gearteten betrieblichen Zusammenhängen. Die mittlerweile in IG Metall und IG Medien angelaufenen Kampagnen geben allenfalls die Richtung und allgemeine Losungen vor. Was damit im Einzelnen praktisch gemacht wird, ist eine ganz andere Frage.
Dennoch kann man jetzt schon hervorheben, dass mit diesen Aktionen, Kampagnen, Untersuchungen und Diskussionen eine neue Auseinandersetzung mit der Arbeit begonnen hat. Klaus Pickshaus sieht darin deshalb auch einen neuen Ausgangspunkt für die betriebliche und gewerkschaftliche Praxis, ihr eigenes traditionell im alten Kommandosystem verhaftetes Selbstverständnis aufzugeben, sondern auch "Zentralität der Arbeit" zu hinterfragen. Ob die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse nun antagonistisch oder sozialpartnerschaftlich begriffen werden, traditionelle Betriebspolitik reduziert sich, so oder so, zumeist auf die Beschäftigten als Arbeitskräfte. Mit der Kritik der "neuen Selbstständigkeit in der Arbeit" rückt aber der gesamte Lebenszusammenhang der Einzelnen ins Blickfeld, der Ausgang der Auseinandersetzungen um die neue Selbstständigkeit in der Arbeit hängt deshalb entscheidend davon ab, wie weit "Lebensqualität" oder das "gute Leben" an die Stelle der Zentralität der Arbeit gerückt wird.
Klaus Pickshaus nennt erste Schlussfolgerungen für die gewerkschaftliche Politik: Nur wenn die faktische Arbeitszeit und die ihr "zugrundeliegenden Mechanismen und Zwänge" thematisiert würden, könnte wieder eine Arbeitszeit-Offensive möglich werden. Widerstand gegen den "Zugriff auf den ganzen Menschen" wird sich betrieblich zunächst im Aushandeln des Lohn-Leistungs-Zeit-Verhältnisses nieder-schlagen müssen, mit einer klaren Abkehr von der Methode individueller Zielvereinbarungen. Ferner wird die Orientierung auf Lebensqualität und damit aufs bessere Leben zu einer Verschränkung von betrieblicher und Tarifpolitik mit sozialpolitischen Alternativen führen müssen, als selbstbewusste Abkehr vom "Monopol eines lebenslangen, gleich verteilten und männlich geprägten Arbeitszeitmodells im Sinne einer Neudefinition des Verhältnisses von Produktions- und Reproduktionsarbeit."
Die Schwierigkeit in der weiteren Debatte wird darin bestehen, die verschiedenen Ebenen und "Felder" differenziert zu bestimmen und dennoch im Zusammenhang aufeinander beziehen zu können. Denn sie bleiben zwingend aufeinander bezogen; schließlich können selbst unter der noch gar nicht gegebenen Voraussetzung eines breiteren sozialen Widerstandes ohne kollektive Absicherung keine realen Freiheiten für Einzelne erkämpft werden; umgekehrt wird es in der Tarifpolitik keine Wende nach vorn geben, wenn nicht eine grundlegende Veränderung in den unmittelbaren sozialen und zwischenmenschlichen Alltagsbeziehungen in Betrieb und "Lebenswelt" herbeigeführt wird. Was dies aber für die traditionellen Formen und Inhalte betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretungspolitik bedeutet, wird heute zwar noch nicht einmal im Ansatz begriffen, aber durchaus geahnt. Denn Ansätze wie die von Glißmann, Peters, Siemens und anderen wirken in kleinen wie großen Diskussionszusammenhängen schon heute wie heilsame Provokationen. Damit wird wenigstens im ersten Schritt so etwas wie Gegenöffentlichkeit hergestellt, womit der erste Schritt schon zu einem großen geworden ist.
1) Mag Wompel: »Vom Störfaktor zum Wettbewerbsfaktor. Das unternehmerische Menschenbild im Strudel der Flexibilisierung«, Forum Wissenschaft, 1/2000, Marburg
Klaus Pickshaus: »Der Zugriff auf den ganzen Menschen«, in: Z, Zeitschrift für marxistische Erneuerung, März 2000
Klaus Pickshaus, Wilfried Glißman, Klaus Peters, Stephan Siemens: »Der Arbeit wieder ein Maß geben, in: Supplement der Zeitschrift "Sozialismus"«, Februar 2000
Dokumentation »Meine Zeit ist mein Leben. Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit«, in: Denkanstöße (IG Metaller in der IBM), Februar 1999
Dokumentation »Wenn die normale Arbeitszeit nicht mehr ausreicht ein Bericht über die Ausbreitung unbezahlter Mehrarbeit«, hg. vom IG Metall-Hauptvorstand, Abt. Tarifpolitik, März 1999
Mehrere Beiträge zum Thema können über das Labournet bezogen werden: http:/www.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/arbeitszeit.html
erschienen in: "express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit" Heft 2/2000
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