Mag Wompel

Vom Störfaktor zum Wettbewerbsfaktor

Das unternehmerische Menschenbild im Strudel der Flexibilisierung

 

Jede Theorie über und Praxis mit Menschen setzt explizit oder implizit ein bestimmtes Menschenbild voraus, dessen Vorgaben in die theoretischen Annahmen ebenso wie in den praktischen Umgang mit Menschen eingehen. Dieses Menschenbild ist bekanntermaßen historischen Wandlungen unterworfen, die im engen Zusammenhang mit dem jeweilig herrschenden Gesellschaftsmodell stehen. Im Zeitalter des Postfordismus und der veränderten Anforderungen an die arbeitenden Menschen sind in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Durchsetzung der »lean production« auch gravierende Veränderungen in den Annahmen über die Funktionsweise von Menschen zu verzeichnen, wie Mag Wompel anhand des neuen Personalmanagements aufzeigt.

Das Management einer fordistischen Fabrik hatte es einfach. Über Jahrzehnte hinweg haben negative, pessimistische Menschenbilder - z.B. Typ X (1) fordistische Produktionsstrukturen bestimmt. Die Arbeitsorganisation war entsprechend gekennzeichnet durch Rigidität der Arbeitsaufgaben, permanentes Misstrauen, auf Kontrolle und Disziplinierung beschränkte Führung, rein materielle Leistungsanreize und mangelnde Mitsprache- wie Entwicklungsmöglichkeiten in der Arbeitstätigkeit. Das Fließband wurde zum Symbol für eine »Misstrauenskultur«. Gemäß der Taylorschen Überzeugung, dass, was nicht kontrolliert wird, auch nicht ausgeführt wird, wurde durch das Fließband die individuelle Kontrolle durch die Kontrolle durch den Arbeitsprozess ergänzt und damit die Menschen zum Maschinenteil und Objekt der Produktion.

Die erzwungene Gleichgültigkeit gegenüber und Unzufriedenheit mit der Aufgabe führte - neben Fluktuation, Absentismus und Streiks - zu Versuchen der Überlistung des Managements durch Leistungszurückhaltung und Manipulationen. Dieser beständige Kampf um die Kontrolle der Arbeitsbedingungen widersprach zwar tagtäglich dem Menschenbild, änderte dennoch nichts an dessen Dominanz.

Ford reagierte auf die hohe Fluktuation und Unzufriedenheit der ArbeiterInnen mit verhältnismäßig hohen Löhnen (Akkordentlohnung) und Prämien für Verbesserungsvorschläge. Dies hat sich zum klassischen Muster der Einbindung von ArbeiterInnen und ihrer Interessenvertretungen nicht nur in der Automobilindustrie entwickelt. Hierzu gehörten in der stabilen Wachstumsphase auch ständige Kaufkrafterhöhungen durch Lohnsteigerungen und Preissenkungen. So glaubten die meisten ManagerInnen sehr lange, dass ArbeiterInnen nur angereizt, angeleitet und kontrolliert werden müssten.

Die Überbürokratisierung und Hierarchisierung der betrieblichen Abläufe sowie die eskalierte Kontrolle wurden jedoch zu teuer und zu unflexibel, als veränderte KundInnenwünsche und verschärfter internationaler Wettbewerb seit den 60er Jahren eine erhöhte Produktvielfalt und Qualität statt Massenfertigung gleichbleibender Güter erforderten. Konjunktureinbrüche erschwerten gleichzeitig das Aufrechterhalten hoher Löhne zur Bindung der Arbeitskräfte und Reduktion von Fluktuationskosten. Produktivitätssteigerungen durch Verschärfung von Arbeitszerstückelung und Fremdsteuerung schienen ausgeschlossen.

Eine naheliegende Lösung bestand vor dem Hintergrund des herrschenden Menschenbildes in der Doppelstrategie der Auslagerung arbeitsintensiver Produktionsbereiche in sog. »Niedriglohnländer« und weitestgehender Automatisierung der heimischen Produktion. Doch hohe Störungs- und Stillstandskosten und mangelnde Flexibilität sowie nicht zuletzt die hohe Kapitalbindung führten bald zur Einsicht, dass technikfokussierte Rationalisierung menschliches Arbeitsvermögen nicht ersetzen kann. Die Planungslücke betrieblicher Prozesse angesichts zunehmender Flexibilitätserfordernisse bedingt die betriebliche Angewiesenheit auf die Kooperation - und damit Motivation - der beschäftigten Personen. Von nun an hatten sich ManagerInnen um den »ganzen Menschen« zu kümmern.

Mittelpunkt schlanker Produktion

Gesucht waren Produktionskonzepte, die sowohl flexible Losgrößen produktiv und qualitativ zugleich bewältigen als auch von den Beschäftigten als ein neuer Rationalisierungskompromiss akzeptiert werden konnten. Gefunden wurde das Erfolgsrezept der 90er Jahre, das von Toyota adaptierte Konzept der »schlanken Produktion« (Lean Production).

Die Elemente der propagierten neuen und flexiblen Organisation bestehen in einer Dezentralisierung und Erweiterung des Entscheidungs- und Kontrollspielraumes der Beschäftigten durch Partizipation und Aufgabenerweiterung auf der Basis von Gruppenarbeit. Die Unternehmen brauchen "mehr denn je den kreativen, über den eigenen Arbeitsbereich hinausdenkenden, planenden und handelnden Mitarbeiter, den Mann und die Frau, die Eigeninitiative entwickeln und in Kenntnis der Zusammenhänge zielstrebig und selbständig handeln." (2)

Das Konzept der Lean Production beruft sich dabei auf positive, optimistische Menschenbilder, zu denen nicht zuletzt die Theory Y zählt, die von Menschen ausgeht, die sich verwirklichen und entfalten möchten, die nach Sinn in der Arbeit suchen, zu Engagement und Initiative fähig sind, nach Verantwortung streben und die nicht zuletzt bereit sind, sich zugunsten von Zielen, denen sie sich verpflichtet fühlen, der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle zu unterwerfen.(3)

Die ArbeiterInnen scheinen damit den Kampf gegen die Maschine gewonnen zu haben. Die versprochene Anerkennung ist aber an Bedingungen geknüpft: Sie müssen - zumindest für ihre Tätigkeitsbereiche - gut ausgebildet, motiviert und flexibel sein. Das Ziel der Unternehmen besteht zudem darin, alle Beschäftigten von der Einstellung her zu UnternehmerInnen werden zu lassen. Und hierfür sei eine "fundamentale Haltungsänderung" der Beschäftigten notwendig, "und zwar bis zu einem Punkt, an dem sich alle Mitarbeiter in einem Klima gegenseitigen Vertrauens dem Firmenziel verschreiben können, ihre Arbeit mit maximaler Effizienz und Produktivität durchzuführen". (4)

Dafür sollen den Beschäftigten durchaus Spielräume gegeben werden - unter der Vorgabe, diese für Produktivitätsgewinne zu nutzen, weshalb der Vermittlung einer richtigen Einstellung mit Hilfe entsprechender Unternehmenskultur ein hoher Stellenwert zukommt. Erst wenn die Aufgabe der Vermittlung des »Wir-Gefühls« gelingt, sind die Beschäftigten zur Preisgabe ihres Produktionswissens zu Rationalisierungszwecken bereit.

Kollektive SelbstrationalisiererInnen

Als produktiv gelten ausschließlich die Beschäftigten, die im Prozess den Produktwert direkt steigern, weshalb alle andere Beschäftigten als abzubauende – da nur »indirekt« den Produktionswert steigernde – wahrgenommen werden können. Durch die Reduktion der Produktionsfaktoren entsteht ganz bewusst eine labile Produktion, die von den Beschäftigten tagtäglich extremen Einsatz zur Aufrechterhaltung der Prozesse erfordert. Ergänzt und gesteigert wird dieser Effekt dadurch, daß zu der Pufferminimierung auch der »Faktor Mensch« gehört. So bemisst sich die Personalkalkulation in der Lean Production nicht mehr am »worst case«, im Sinne der Berücksichtigung aller Personalausfälle, sondern am »best case«. Dies zielt darauf, im betrieblichen Normalfall der Unterbesetzung die maximale Leistungsfähigkeit aller Beschäftigten zu erzwingen - und zu überprüfen.

In Verbindung mit dem Versprechen von Beteiligung und Humanisierung sollte Gruppenarbeit für die Beschäftigten erstrebenswert erscheinen und gleichzeitig die Personaleinsatzflexibilität fördern, die für die labilen und schlanken Prozesse im Rahmen der Lean Production erforderlich ist. Die Bereitschaft hierfür setzte einen größeren Grad an Loyalität und Identifikation mit den Zielen des Unternehmens voraus. Viele Beschäftigte fühlten sich in der Tat geschmeichelt, endlich ernstgenommen und respektiert zu werden. Wo diese Wirkung nicht eintrat oder wieder verpuffte, wirkte für die Unternehmen ein weiterer Vorteil der Gruppenarbeit, dass sich durch das interne KundInnenprinzip die Beschäftigten gegenseitig kontrollieren. Dadurch können tendenziell externe Kontrolle ersetzt und Abwehrreaktionen sowie Kontrollkosten gemindert werden.

Gruppenarbeit spielt auch als Zugriff auf das Leistungs- und Rationalisierungsvermögen der Beschäftigten und zwar v.a. auf das - immer vorhandene, doch nie vergütete - Prozess- und Erfahrungswissen, eine wichtige Rolle für den »Kontinuierlichen Verbesserungsprozess« (KVP). Es kommt darauf an, die durch die Beschäftigten gesehenen Verbesserungsmöglichkeiten - auch diejenigen, die schon immer jedeR für sich am Arbeitsplatz durchführte - der Zufälligkeit und der Individualität zu entheben und die damit verbundenen Rationalisierungsgewinne den Beschäftigten zu entziehen. Dafür werden auch die kleinsten Zeit- und Materialersparnisse protokolliert und zum Arbeitsstandard für alle.

Der Leistungsdruck in den Gruppen lässt sich in einem System ohne Zeit- und Personalpuffer oft nur abwehren, wenn er an andere weitergegeben wird - dies sind in der Regel ältere und leistungsschwächere Beschäftigte. (5) War es an einem Einzelarbeitsplatz ein individuelles Risiko, die geforderte Stückzahl nicht zu erreichen, mutiert man in der Gruppenarbeit schnell zum Faulenzer, der mitgeschleppt werden muss. Dadurch scheint Gruppenarbeit in starkem Maße den Unternehmen bei der Unterscheidung "in Faule und Fleißige, in Interessierte und Ignoranten, in Motivationsbereite und gänzlich Unwillige" (6) zu helfen. Dies sei nötig, denn der "stark ausgeprägte Schutz von Drückebergern und Mittelmäßigen durch Betriebsräte, Gewerkschaften und andere formale Strukturen in Deutschland ist im internationalen Vergleich wettbewerbsrelevant und schädlich." (7)

Von den Humanisierungshoffnungen der Gruppenarbeit verbleibt unter dem Strich für die Beschäftigten, dass die »Poren des Arbeitstages« immer mehr verschlossen werden, so z.B. durch den Abbau nicht wertschöpfender Tätigkeiten. »Management by stress« erhöht nicht nur die psychische und physische Belastung der Arbeitstätigkeit. Statt Integration leistungseingeschränkter Beschäftigter erfolgt ihre sukzessive Ausgrenzung.

Die interne Kontrolle wird ergänzt um eine externe Kontrolle durch Visualisierung und Standardisierung der Operationen, wodurch die Kontrolle keinesfalls schwächer, nur indirekter wird. Dabei möchten die meisten Beschäftigten sich solidarisch verhalten und nicht auf Kosten anderer konkurrieren und leiden darunter, dass durch Gruppenarbeit unter diesen Bedingungen "die schlechten Seiten im Menschen aktiviert werden", so ein Arbeiter bei Mercedes Bremen. Ein Gruppensprecher im gleichen Werk sagte zu Gruppenarbeit: "Samstag, Sonntag ärgere ich mich und nehme mir vor, mich solidarischer zu verhalten. Aber am Montag gehe ich durchs Werkstor, und die Ellenbogengesellschaft regiert."

Pufferrolle oder Zeitsouveränität?

Dient Gruppenarbeit der Erhöhung der qualitativen Personaleinsatzflexibilität, so soll durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitseinsatzes selbst die zeitliche Flexibilität des verbliebenen Personals möglichst zur kostengünstigeren Rundumverfügbarkeit ausgeweitet werden. Die Reaktionsflexibilität auf KundInnenwünsche durch Arbeitszeitflexibilisierung stellt dabei nur einen Aspekt dar, der andere besteht in der Kostensenkung, denn auch Zeit gehört zu den kostbaren Gütern, deren Verschwendung durch Lean Production der konsequente Kampf angesagt wird. Deshalb wird die Arbeitszeitflexibilisierung ergänzt um die möglichst exakte Anpassung des Personals und dessen Arbeitseinsatzes an den Arbeitsanfall.

Die Grundlage für die betriebliche Notwendigkeit eines auch zeitlich flexiblen Personaleinsatzes bildet die erfolgte drastische Reduktion derjenigen Personalreserven, die bislang Auftrags- und Produktionsschwankungen aufzufangen hatten, aber, wenn sie nicht gebraucht werden, den Nachteil hatten, zu unproduktiven Phasen bezahlter Arbeit zu führen. Diese Reduktion gelingt nur durch die flexible und möglichst vollständige Anpassung der Arbeitszeiten des Personals (und möglichst dessen Menge) an den aktuellen, kurzfristigen Bedarf. Doch wie bei der Ebene der Arbeitsverdichtung durch Minimierung »nicht-wertschöpfender Tätigkeiten« geht es hier darum, die Verschwendung durch »nicht-wertschöpfende Zeiten« zu minimieren, also »Leer-Zeiten« zu vermeiden. Was für die ArbeitgeberInnen »Leer-Zeiten« sind, sind für die Beschäftigten Pausen oder Ausgleichsarbeiten.

Die auch zeitlich flexible Einsatzbereitschaft soll den Beschäftigten durch ein Mehr an Zeitsouveränität, als Selbstverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten zur Realisierung ihrer eigenen Arbeitszeitwünsche, schmackhaft gemacht werden. Tatsächliche Zeitsouveränität der Beschäftigten setzt allerdings entsprechende Mitwirkungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten voraus.

Doch die Labilität von »optimierten«, weil radikal ausgedünnten, Belegschaften wird immer häufiger zum Engpass in nicht optimalen, also üblichen Produktionsabläufen. Überstunden, als die zeitliche Flexibilität der Beschäftigten, gelten als Puffer der pufferlosen Fabrik und werden immer mehr zum - durch die Arbeitszeitflexibilisierung kostengünstigen - Normalfall.

Diese zeitliche wie örtliche »Mobilität« der Beschäftigten wird durch weitere Maßnahmen unterstützt und erweitert. Neben der geschilderten Tendenz zur Verlängerung und Intensivierung des, flexibel anzuordnenden, Arbeitstages, besitzen die Unternehmen weitere Möglichkeiten, um personell »atmen« zu können: Umwandlung von Normalarbeits- in Teilzeitarbeitsverhältnisse, verstärkter Einsatz von und Fortschreibung der befristeten Arbeitsverträge (temporäre Beschäftigung; Kettenverträge), Einsatz von Aushilfskräften, Ferienaushilfen und LeiharbeitnehmerInnen/Zeitarbeit. Zugleich haben solche ArbeitnehmerInnen als ungewollte LohndrückerInnen die Funktion, an der Demontage der finanziellen und sozialen Standards der Kernbelegschaft mitzuwirken.

Die vermeintliche Zeitsouveränität macht sich für die Beschäftigten in einer fast grenzenlosen Flexibilisierung und in der Verantwortung für die Anpassung ihrer zeitlichen Verfügbarkeit an schwankende Auftragslagen bemerkbar - und zwar kostenlos, denn mit dem »Normalarbeitstag« verschwindet auch das Kriterium für die Definition von Überstunden. Neben der Leistungsverdichtung in der Arbeitszeit, wie wir sie in der Gruppenarbeit kennen gelernt haben, in der immer etwas zu tun ist und jede »nicht-wertschöpfende« Tätigkeit eliminiert wird, kommt die Leistungsverdichtung der Arbeitszeit selbst durch ihre Effektivierung, also Produktivitätssteigerung der Arbeitszeit hinzu, denn es wird ausschließlich nur dann gearbeitet, wenn die Arbeitsleistung benötigt wird. Und diese Anpassung erfolgt kostengünstiger und gleichzeitig reibungsloser und flexibler denn je, denn die Zustimmungspflicht des Betriebsrats wird auf absolute Produktionsspitzen reduziert.

Durch die - sofern gelungene - Identifikation mit dem Unternehmen und dessen Interessen wird nun auch eine Internalisierung in den unteren Bereichen der Unternehmenshierarchie möglich, und zwar ohne die im oberen Bereich üblichen Anreize. Stechuhren, einst Sinnbild der Kontrolle und des strukturellen Misstrauens, werden damit immer mehr obsolet und mutieren zum Symbol eines unbestechlichen Schutzes der Beschäftigten, die durch das »Vertrauen« in ihre Eigenverantwortlichkeit unter einen Gruppendruck zu überlangen Arbeitszeiten geraten. Mit zunehmender Akzeptanz der Eigenverantwortung für die Aufgabenerfüllung und der Identifikation zumindest der eigenen Arbeitsplatzsicherheit mit den Interessen des Unternehmens, werden die Stechuhren überflüssig und sogar kontraproduktiv, verpflichtet doch das Festhalten der Überstunden zu ihrer Entlohnung. Angesichts dieser abgeforderten unbegrenzten Flexibilität erscheinen »Zeitwohlstand« und »Muße« mehr denn je als Utopie - zumindest für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben.

»Gesunde« Unternehmen

Die Art und Weise des Umgangs mit kranken Beschäftigten liefert ein gutes Beispiel der praktizierten Unternehmenskultur »schlanker Betriebe«. Hier können nicht nur die propagierte Achtung, Vertrauen und Respekt einer Überprüfung unterzogen, sondern auch die Bemühung um Integration aller Maßnahmen im Rahmen der Lean Production verdeutlicht werden, denn der aktuelle Umgang mit den erkrankten bzw. häufig kranken Beschäftigten hängt eng mit der Umsetzung der Gruppenarbeit und den Strategien der Arbeits- und Arbeitszeitflexibilisierung zusammen.

In der betriebsgemeinschaftlich und sozialpartnerschaftlich geprägten Ära der Nachkriegszeit gab es einen wenn nicht liberalen, so doch kompromisshaften Umgang mit krankheitsbedingter Abwesenheit. Eine bestimmte Fehlquote wurde als unabwendbar akzeptiert und zur Grundlage der Personalbedarfsberechnung - nur besonders auffällige Fälle bzw. besonders unliebsame Beschäftigte hatten mit Konsequenzen zu rechnen. Im Rahmen der Umsetzung der Lean Production ist eine neue Offensive zur Senkung der betrieblichen Kosten der krankheitsbedingten Abwesenheit zu verzeichnen, denn sie lenkte den Blick auf die abwesenden kranken Beschäftigten als einen Faktor von Verschwendung und ein Funktionsrisiko ausgedünnter Belegschaften. In »schlanken« Systemen fällt nämlich jedes fehlende Glied auf.

Im Mittelpunkt der aktuellen Strategien, Druck zur Anwesenheit auch im Krankheitsfall auszuüben (8), steht das sog. »Rückkehrgespräch« von betrieblichen Vorgesetzten mit Beschäftigten, die aus einer krankheitsbedingten Abwesenheit zurückkehren. Das Neue ist die Systematik und Formalisierung der Gespräche sowie ihre »integrative« Flankierung im Rahmen der Unternehmenspolitik. Das erste bekannt gewordene der systematischen Konzepte ist der »AnwesenheitsVerbesserungsProzeß« (AVP) von Opel. Es besteht aus vier sich bis zur krankheitsbedingten Kündigung steigernden Gesprächsstufen. AVP ist das bürokratischste der bisher bekannten Konzepte und hat eine Vorreiterrolle für ähnliche Strategien nicht nur in der Automobilindustrie gespielt. Flankiert wird das Programm durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung, laut der die Weihnachtsgratifikation nur dann zu 100|% ausgezahlt werden soll, wenn im jeweils vorausgehenden Jahr eine bestimmte Fehlzeitenrate nicht überschritten wurde. Damit wurde die kollektive finanzielle Bestrafung von Krankheit eingeführt. Gleichzeitig wird dazu aufgerufen, die Arbeitsunfähigkeit - v.a. bei besonders kostspieligen Arbeitsunfällen - vorzeitig abzubrechen.

Mit solchen Maßnahmen wird versucht zu unterstellen, Kranke seien »BlaumacherInnen«, die den KollegInnen schaden. Krankheit wird ausschließlich als selbstverschuldet, mutwillig und verhaltensbedingt dargestellt, während Gesundheit nur als Voraussetzung für Leistungsbereitschaft und -fähigkeit interessiert. Damit soll nicht nur von der Rolle der Arbeitsgestaltung und den psychischen Kosten der Arbeitstätigkeit abgelenkt werden. Gleichzeitig wird ein wehrloses Hinnehmen einer darauffolgenden Kündigung vorbereitet. Solche Internalisierungsstrategien sind uns bereits im Kontext des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit bekannt.

Diese Spaltung in »wirklich Kranke« und »schwarze Schafe« ist eng mit der Entsolidarisierung der Belegschaft verbunden, wenn es heißt, "Drückeberger" und "Simulanten" (9) würden bei den KollegInnen Ärger auslösen, weil sie Mehrarbeit verursachen. "Fehlt der schon wieder, und wir können dann seine Arbeit machen" formulierten es die Väter von AVP. (10) Die ungewöhnliche Sorge des Managements um Gerechtigkeit und Solidarität unter den Beschäftigten scheint weniger dem Wunsch nach Wohlbefinden der Belegschaft zu entspringen, als auf einer wichtigen Nebenfunktion von AVP und verwandten Konzepten zu beruhen, diesen Druck untereinander zu unterstützen und damit von dessen VerursacherInnen abzulenken. So sind Zielvereinbarungen zwischen MeisterIn und Arbeitsgruppe, in denen ein Zielwert der Krankenquote vereinbart wird, an dem sich der Personalvorhalt orientiert, ein Bestandteil der ansonsten am AVP angelehnten Maßnahmen bei Mercedes Bremen. Neben Krankentelefonaten, Krankenbriefen und Krankenbesuchen soll damit bewirkt werden, dass die Gruppe den Fehlstand in einem festgelegten Rahmen durch eine Mehrleistung selbst ausgleicht. Dadurch wird das häufige Fehlen einzelner KollegInnen für die übrigen Gruppenmitglieder deutlicher und der Druck aufeinander stärker.

Sowohl durch das Management als auch in der personalwissenschaftlichen Diskussion wird vielfach auf die kommunikationsfördernde Wirkung von Rückkehrgesprächen verwiesen. Zweifelsohne sind die meisten Unternehmen weder durch eine gleichberechtigte Kommunikation noch durch eine demokratische Unternehmenskultur gekennzeichnet. Doch gehören Maßnahmen des Drucks auf Kranke zu den Ursachen dieses Zustandes. Ausgerechnet diese, von den Belegschaften schon mal als »Anschißgespräch« bezeichneten, Rückkehrgespräche als Mittel zur Behebung dieser Defizite zu betrachten, erscheint als zynisch. Damit soll vielmehr ein Menschenbild durchgesetzt werden, in dem jeder »seines Glückes Schmied« sei, nun in einer neuen und doch altbekannten Qualität: Permanente Leistungsfähigkeit als Norm und Krankheit als individuelles Problem.

Produktivitäts- oder Kostenfaktor?

Zusammenfassend gelten arbeitende Menschen als Produktivitäts- und Gewinnfaktor, sofern sie qualitativ wie zeitlich und physisch flexibel einsetzbar, eigeninitiativ im Sinne ungestörter Prozesse sowie innovativ zugunsten der Kostensenkung sind. Sofern eine Person sich aber weigert, sich mit dem Unternehmen und dessen Zielen zu identifizieren, nicht (in den vorgegebenen Bahnen) mitdenken kann oder will, das Tempo nicht mithalten kann oder will und zudem krank ist oder »krankfeiert« oder einfach behindert oder alt ist, dann stellt sie einen nicht mehr potentiellen, sondern manifesten Stör- und Kostenfaktor dar. Dieser soll möglichst »ausgegliedert« werden, und manchmal helfen unter gezieltem Druck befindliche Kollegen dabei.

Wenn das Menschenbild des Fordismus von unmündigen, nur zu kleinsten Arbeitsschritten fähigen Beschäftigten ausging, so sind »Idealbeschäftigte« der Lean Production, solche Menschen, die sich freiwillig voll und ganz auf ihre Rolle als Produktionsfaktor beschränken - und Produktionsfaktoren stellen flexible und verfügbare Masse dar. Das Neue in schlanken Fabriken besteht in der Möglichkeit zur flexibleren und umfangreicheren Nutzung aller Kompetenzen - bei gleichzeitiger Individualisierung der (Reproduktions-)Kosten. Dies aber nur, sofern die Einbindungsmuster erfolgreich waren.

Wenn die Beschäftigten die Identifikation und das »Wir-Gefühl« verweigern und unter Solidarität verstehen, mühsam erkämpfte Leistungsreserven und Kontrolllücken nicht zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit aufzugeben, steht dem Management immer noch das gute alte Mittel des Drucks durch die Angst vor Arbeitsplatzverlust zur Verfügung. Auch moderne Manager bevorzugen weiterhin diesen Weg.

Mag Wompel ist Industriesoziologin und Redakteurin des LabourNet Germany (www.labournet.de)

Quelle: Forum Wissenschaft Heft 1/2000, Schwerpunktthema: Psychologie und Postmoderne

Anmerkungen

1) McGregor, D.: Der Mensch im Unternehmen, Düsseldorf 1970
2) Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitsgeberverbände - Gesamtmetall - (Hg.): Mensch und Arbeit. Gemeinsame Interessen von Mitarbeitern und Unternehmen in einer sich wandelnden Arbeitswelt, Köln 1989
3) McGregor 1970, a.a.O.
4) Brosseder, S.: Veränderung der Unternehmenskultur - Führung, Organisation, Verantwortung, in: Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. (Hg.): Lean Production II. Erfahrungen und Erfolge in der M+E-Industrie, Köln, 1994, S.79-95
5) Wompel, M.: Diene und Spalte! »Management by Stress« durch Gruppenarbeit, in: analyse & kritik (ak) 432 vom 18. November 1999, S. 14-15
6) Schattner, K.: Die neue Realität in der Zulieferindustrie. Marketing für Anpassungsprozesse, Landsberg/Lech 1995
7) Ebd.
8) Wompel, M.: Jagd auf Kranke - Rückkehrgespräche auf dem Vormarsch. Offenbach 1998
9) Spies, S./Beigel, H.: Einer fehlt, und jeder braucht ihn, 2., erweiterte Aufl., Wien/Frankfurt 1997
10) Ebd.

 


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