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aus: Aufsätze zur Diskussion, Nr. 34, Dezember 1985, Ffm 1985

Unterkonsumtion und allgemeine Krise des Kapitalismus

von Klaus Winter

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In dem vorliegenden Artikel wird die Auseinandersetzung mit der Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus fortgesetzt, nachdem sie in einem früheren Beitrag(1) als ein Ausgangspunkt und fort existierender Hintergrund für die Entstehung der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus dargestellt worden war. Damals wurde anhand der Darstellung des Lehrbuchs der Politischen Ökonomie von 1955 (1a) darauf hingewiesen, daß der Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus die Annahme der unzureichenden Konsumtionsfähigkeit zugrunde lag. "Der Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus lag die Annahme eines permanenten 'Marktproblems' zugrunde, d.h. die Auffassung, daß infolge der beschränkten Konsumtion der Massen der Produktenwert grundsätzlich nicht vollständig realisiert werden kann."(1b) Andererseits hatte Reinhold in "Imperialismus heute" die Unterkonsumtionstheorie zur Erklärung der Krisen und des Staatseinflusses auf die Milderung der Krisen benutzt.(1c)

Damit deutete sich ein Zusammenhang an zwischen der Unterkonsumtionstheorie zur Erklärung der Krisen und der Theorie der allgemeinen Krise, der im folgenden näher betrachtet werden soll. Er wurde bereits in der II. Internationale formuliert; auf Grundlage der Unterkonsumtionstheorie sagte Kautsky 1902 ein notwendiges Stadium chronischer Überproduktion voraus. Rosa Luxemburg hat Kautskys Grundgedanken aufgegriffen und weiterentwickelt, dadurch aber auch seine Unvereinbarkeit mit der Marxschen Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses herausgearbeitet. Auf diesem Ideengut der II. Internationale baute Varga sein Verständnis der Marxschen Krisentheorie und der "Niedergangsperiode" des Kapitalismus auf.

I. Unterkonsumtion und chronische Überproduktion (Kautsky 1902)

1. Die Rolle der Konsumtion

In seinen "Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England"(2) versuchte Tugan-Baranowski, die kapitalistischen Krisen aus der Planlosigkeit der Produktion und den daraus entstehenden Mißverhältnissen zwischen einzelnen Produktionszweigen zu erklären. Gleichzeitig kritisierte er die Theorie, die die Krisen aus der Unterkonsumtion erklärte und die er als die herrschende Krisentheorie seiner Zeit bezeichnete; daneben widmete er aber auch der Krisentheorie von Marx ein eigenes Kapitel, die er im wesentlichen - ungeachtet eines gewissen Einflusses der Ansichten Sismondis(2a), den er bei Marx feststellte - als eine Theorie der Überproduktion von Kapital verstand. Nach Marx sei die treibende Macht der kapitalistischen Produktion die Profitrate, deren Fall - hervorgerufen durch die relative Zunahme des konstanten Kapitals gegenüber dem variablen - auf einem gewissen Punkt zu ungenügender Verwertung, Überfluß an Kapital und Einschränkung der Produktion führe. Im Fall der Profitrate zeige sich daher die Schranke der kapitalistischen Produktion.

Um zu beweisen, daß die kapitalistische Produktion eine solche Schranke nicht besitzt, ging Tugan-Baranowski daran, das Gesetz vom Fall der Profitrate selbst für unhaltbar zu erklären. Dabei ging er von der Tatsache aus, daß der Mehrwert - wie Marx dargelegt hatte - in der Form des Profits gleichmaßig aus dem konstanten und dem variablen Kapital zu entspringen scheint. Aber im Unterschied von Marx erklärte er, daß dadurch die Herkunft des Mehrwerts nicht verdunkelt werde, sondern gerade deutlich ans Licht trete. In Wirklichkeit würden nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Maschinen Profit produzieren. Insofern sei die Zunahme der Produktionsmittel im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter kein Grund für ein Sinken der Profitrate. Die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit und des Mehrwerts durch die Mehrarbeitszeit hatte für Tugan-Baranowski keine reale Bedeutung - und damit entfiel auch der Fall der Profitrate als Schranke der kapitalistischen Produktion.

Kautsky hat in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Tugan-Baranowskis Auffassungen(3) zwar die Werttheorie und das Gesetz vom Fall der Profitrate verteidigt, nicht aber die Marxsche Krisentheorie, die darauf aufbaute und von Tugan-Baranowski nach dem 3. Band des "Kapitals" referiert worden war. Der Erläuterung, warum nicht die Produktionsmittel, sondern "die menschliche Arbeit der wertbildende Faktor" ist, gab Kautsky eine Wendung, die in eine ganz andere Richtung weist: "... und darum entscheidet auch in letzter Linie stets die Ausdehnung des menschlichen Konsums über die Ausdehnung der Produktion."(4) Mit anderen Worten: nicht die Erhaltung des Kapitals und seine größtmögliche Verwertung, sondern die Reproduktion der Arbeiter und der Genuß und Luxus der Kapitalisten ist der Maßstab der Produktion. Der Kapitalismus wird damit als eine auf den Gebrauchswert gerichtete Produktionsweise aufgefaßt. Marx hatte das Gegenteil behauptet: "Man muß es nie vergessen, daß die Produktion dieses Mehrwerts - und die Rückverwandlung eines Teils desselben in Kapital, oder die Akkumulation, bildet einen integrierenden Teil dieser Produktion des Mehrwerts der unmittelbare Zweck und das bestimmende Motiv der kapitalistischen Produktion ist. Man darf diese daher nie darstellen als das, was sie nicht ist. nämlich als Produktion, die zu ihrem unmittelbaren Zweck den Genuß hat oder die Erzeugung von Genußmitteln für den Kapitalisten. Man sieht dabei ganz ab von ihrem spezifischen Charakter, der sich in ihrer ganzen inneren Kerngestalt darstellt."(5) Daraus ergab sich für Marx, daß "eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen ..."(6)

Von Kautskys Standpunkt dagegen war es konsequent anzunehmen, daß eine gewisse Höhe des Konsums über die Beschränkung der Produktion entscheidet. Er erläuterte seine Auffassung, daß Marx und Engels die Krisen aus der Unterkonsumtion erklärt haben, und fügte dann hinzu: "Dies in kurzen Zügen die. soweit wir sehen, von den 'orthodoxen' Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie."(7)

2. Die "Krisentheorie der 'orthodoxen' Marxisten"

Kautsky erläutert, daß zwar die Unterkonsumtion der letzte Grund der Krisen sei, da aber die Unterkonsumtion der Massen allen Klassengesellschaften eigen sei, "handelt (es) sich hier also um eine Unterkonsumtion, die unter besonderen Verhältnissen' existiert".(8) Während nämlich "vor dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus ... die Ausbeutung fast ausschließlich Zwecken des Konsums (dient)' (9) , habe die Maschine den Zwang zur Akkumulation herbeigeführt. "Von jetzt an wird es für die neuen Ausbeuter, die industriellen Kapitalisten, unmöglich, sich auf dem Markte zu behaupten, wenn sie den ganzen Profit, den sie einheimsen, in persönlichem Konsum aufzehren. Sie müssen 'sparen', einen Teil des Profits zurücklegen, akkumulieren, um ihr Kapital zu vermehren und so konkurrenzfähig zu bleiben. So führt die kapitalistische Produktionsweise mit Notwendigkeit einerseits zur Einschränkung des persönlichen Konsums der Kapitalisten und andererseits gerade in Folge dessen zu steter Vermehrung der Produktionsmittel und zu steter Erhöhung der Produktivität der Arbeit, also zu steter Erweiterung der Produktion von Konsumtionsmitteln. Die Unterkonsumtion der Ausgebeuteten wird jetzt nicht mehr wettgemacht durch einen entsprechenden persönlichen Konsum der Ausbeuter. Darin liegt der Grund des ständigen Dranges nach Überproduktion in der heutigen Produktionsweise."(10)

Das erste Argument, das Kautsky nennt, besteht darin, daß die Akkumulation eine Einschränkung des Konsums der Kapitalisten voraussetzt und sich auf Kosten des Konsums vollzieht. Hier kommt wieder zum Ausdruck, daß Kautsky die Konsumtion als den eigentlichen Zweck der kapitalistischen Produktion ansieht und die Akkumulation als eine (wenn auch notwendige) Abweichung von ihm. "Daß die Akkumulation", sagt Marx, "sich auf Kosten der Konsumtion vollziehe, ist - so allgemein gefaßt - selbst eine Illusion, die dem Wesen der kapitalistischen Produktion widerspricht, indem sie voraussetzt, daß ihr Zweck und treibendes Motiv die Konsumtion sei, nicht aber die Ergatterung von Mehrwert und seine Kapitalisation, d.h. Akkumulation."(11)

Sein zweites Argument besteht darin, daß die Erweiterung der Produktion zu "steter Erweiterung der Produktion von Konsumtionsmitteln" führt. Es ist aber auch möglich, daß eine Erweiterung der Produktion von Produktionsmitteln nicht von einer gleich großen Erweiterung der Produktion von Konsumtionsmitteln begleitet wird.(12) Man erhält den Eindruck, daß Kautsky auch hier in der gesellschaftlichen Gesamtproduktion nur eine Produktion von Konsumtionsmitteln sieht. In der Tat macht er Tugan-Baranowski den Vorwurf, dieser behandle den Gesamt reproduktionsprozeß des Kapitals so, "als ob die Konsumtion der Produktionsmittel etwas anderes wäre als die Produktion von Konsumtionsmitteln! Produzieren heißt Konsumtionsmittel für den menschlichen Gebrauch herstellen. Diese Tatsache kann durch die fortschreitende Arbeitsteilung nur verschleiert, aber nicht aufgehoben oder auch nur eingeschränkt werden.(13)

Die Konsumtion der Produktionsmittel ist z.T. wirklich etwas anderes als die Produktion von Konsumtionsmittel. Eisen z.B. kann verbraucht werden in der Produktion von Maschinen, und diese Maschinen könnten ihrerseits das verbrauchte Eisen produzieren. Dieser wechselseitige Austausch von konstantem Kapital gegen konstantes Kapital ist kein Schein, der durch die Arbeitsteilung erzeugt und daher verschwinden würde, sobald man den Reproduktionsprozeß in seiner Gesamtheit betrachtet. Auch gesamtgesellschaftlich bleibt die Tatsache bestehen, daß Produktionsmittel produziert werden, die nur wieder in der Produktion von Produktionsmitteln Verwendung finden.

Zwar war Kautsky die Darstellung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses im zweiten Band des "Kapitals" nicht unbekannt - zudem setzte er sich gerade mit Tugan-Baranowskis Auffassungen auseinander, der sich mehr oder minder auf die Darstellung von Marx stützte - das hinderte ihn jedoch nicht daran, in der Erklärung der Krisen von anderen Voraussetzungen auszugehen, die mit den Ergebnissen des zweiten Bandes des "Kapitals" in Wider Spruch standen. "Kautsky scheint aber nicht gewahr zu werden", schrieb später Rosa Luxemburg, "daß diese 'allgemein von den orthodoxen Marxisten angenommene 'Krisentheorie nicht bloß zu den Tugan-Baranowskischen Paradoxen, sondern auch zu den eigenen Schemata der Akkumulation von Marx sowie zu deren allgemeiner Voraussetzung im zweiten Bande durchaus nicht paßt."(14) Daß der Verbrauch der Produktionsmittel nichts anderes ist als Produktion von Konsumtionsmitteln, ist nur ein anderer Ausdruck des Dogmas von A. Smith, daß der Wert der verbrauchten Produktionsmittel in den Wert der Konsumgüter eingeht - oder daß der Wert des gesamtgesellschaftlichen Produkts mit dem Einkommen der Arbeiter und Kapitalisten (= v + m) bezahlt wird. Auch wenn Kautsky sich darüber nicht im klaren war, so verhalf ihm doch die "Smithsche Gedankenwirre"(15) erst zu einem Größenvergleich zwischen Produktion und Konsumtion, dem gesellschaftlichen Produkt auf der einen Seite und der Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft auf der anderen Seite.

Ein Gleichgewicht von Produktion und Konsumtion sah Kautsky noch erfüllt für den Fall der einfachen Reproduktion, in dem die Kapitalisten den Mehrwert vollständig konsumieren, so daß die Unterkonsumtion der Ausgebeuteten durch den Luxus der Ausbeuter "wettgemacht" wird. In diesem Fall böte der Konsum der Kapitalisten ausreichenden Ersatz für die mangelnde Konsumtion der Arbeiter - oder. um in der Vorstellung von A. Smith zu bleiben, Arbeiter und Kapitalisten können durch ihre zahlungsfähige Nachfrage (= v + m) das ganze gesellschaftliche Produkt bezahlen. Aber die Kapitalisten müssen akkumulieren. Ein Teil des Mehrwerts wird nicht mehr zum Kauf von Konsumtionsmitteln verwendet, sondern dient zudem noch der Erweiterung der Produktion. Das gesellschaftliche Produkt wird vergrößert, während die Nachfrage nach ihm verringert wird. Und so wird das Gleichgewicht zwischen Produktion Konsumtion durch die bloße Tatsache der Akkumulation zunichte gemacht. Nach dieser falschen Vorstellung scheint die Akkumulation mit Überproduktion identisch zu sein, nämlich mit der Produktion eines nicht absetzbaren Produkts infolge der Unterkonsumtion nicht nur der Arbeiter, sondern auch der Kapitalisten.

Dieses falsche Verständnis der Akkumulation verwandelt das Smithsche Dogma, "daß die Konsumenten in letzter Instanz den ganzen Produktenwert den Produzenten zahlen müssen"(16) in die These, daß Arbeiter und Kapitalisten ihn durch ihren Konsum gar nicht bezahlen können. Um den Wert des gesellschaftlichen Produkts zu realisieren, müssen also Konsumenten außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise ausfindig gemacht werden. Das ist in der Tat die Schlußfolgerung Kautskys: "Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit anwachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsumtionsmittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen."(17)

Die Periode allgemeiner, chronischer Überproduktion

Kautsky hatte erklärt, daß in Anbetracht der Akkumulation Kapitalisten und Arbeiter allein keinen ausreichenden Markt darstellen, so daß sich die Realisierung des gesellschaftlichen Produkts auf nichtkapitalistische Länder und Schichten stützen muß. Das gesellschaftliche Kapital konnte also auf eigener Grundlage seinen Kreislauf gar nicht vollziehen. Vielmehr war nach dieser Vorstellung das Funktionieren der Kontinuität des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses an eine von der kapitalistischen Produktionsweise unabhängige Voraussetzung gebunden, die Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Länder. Diese Bedingung für die Verwertung des gesellschaftlichen Kapitals konnte von ihm aber nicht selbst hergestellt und reproduziert werden, sie wurde und wird im Gegenteil von ihm mit der Zeit zerstört. Wenn der Kapitalismus seine Herrschaftssphäre immer weiter ausdehnt und sich dadurch das äußere Reservoir an Konsumenten erschöpft, dann muß eine Zeit kommen, in der sich die unzureichende Nachfrage von Arbeitern und Kapitalisten in einer dauernden Überproduktion ausdrückt. "Nach unserer Theorie ist diese Entwicklung eine Notwendigkeit und es wird dadurch allein schon bezeugt, daß die kapitalistische Produktionsweise ihre Grenzen hat, über die sie nicht hinaus kann. Es muß eine Zeit kommen, und sie liegt vielleicht schon sehr nahe, von der an es unmöglich wird, daß der Weltmarkt sich jemals auch nur vorübergehend rascher ausdehnt als die gesellschaftlichen Produktivkräfte, wo für alle industriellen Nationen die Überproduktion chronisch wird."(18) Die Möglichkeit des Fortgangs der kapitalistischen Produktion und ihres zyklischen Verlaufs brauchte Kautsky damit nicht zu best reiten, aber beides mußte dann auf dem Boden chronischer Überproduktion stattfinden.(19)

Die Voraussage einer Periode permanenter Überproduktion betrachtete Kautsky mit Recht als logische Folge seiner Erklärung der Krisen aus der Unterkonsumtion. Er zog aus ihr allerdings revolutionäre Konsequenzen, die er den Revisionisten entgegenhielt: "Mit der Anschauung von der Milderung der Klassengegensätze ist aber unsere Theorie der Krisen unvereinbar. Erweist sie sich als richtig, geht die kapitalistische Produktionsweise einer Periode standiger Depression entgegen für den Fall, daß das Proletariat nicht früher die politische Herrschaft erobert, so muß die ökonomische Entwicklung die Klassengegensätze früher schon verschärfen, ehe noch dieser Zustand ständiger Depression erreicht ist.(20)

zweiter Teil

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